Die Onlinedebatte als Politikinstrument: Interview mit einem Piraten

Datum: 14. November 2011
Redakteur:
Kategorie: Politik und Gesellschaft

Im September zog die Piratenpartei mit 8,9 Prozent der Stimmen ins Berliner Abgeordnetenhaus ein, vor allem mit dem Versprechen, die Bürger mehr und transparenter an der Politik zu beteiligen.  Eine zentrale Rolle spielt dabei Liquid Feedback, das Programm, mit dem die junge Partei die Meinungsbildung im Internet organisiert.

Liquid Feedback ist für die Piratenpartei aber nicht nur eine Software, sondern ein demokratisches Prinzip: Die Basis soll soweit wie möglich Kurs und Handeln der Partei bestimmen können. Dafür sind herkömmliche Delegationssysteme zu langsam und eng – deshalb nutzen die Piraten das Netz.

Sebastian Jabbusch, Berliner Pirat, steht der Achten Minute Rede und Antwort. (Foto: Sebastian Jabbusch)

Sebastian Jabbusch, Berliner Pirat, steht der Achten Minute Rede und Antwort. (Foto: Marco Herzog)

In Liquid Feedback können alle Mitglieder konkrete Anträge schreiben (Initiativen genannt), von Maßnahmen vor Ort bis hin zum Grundsatzprogramm. Erfüllen neue Anträge ein Unterstützerquorum, gehen sie in die Diskussionsphase. Dort können nur Unterstützer konstruktives Feedback geben, der Antragssteller kann dieses als Überarbeitung aufnehmen. Gegenmeinungen können als Alternativanträge eingebracht werden, ganz nach dem Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums.

Nachdem ein Antrag eine Ruhephase („Eingefroren“) durchlaufen hat, geht es in die Abstimmung, an der alle Parteimitglieder teilnehmen können.  Für die Abstimmung kann man stufenweise delegieren: Entweder man nimmt seine eigene Stimme immer wahr, delegiert für spezifische Themen oder übergibt die eigene Stimme einem anderen Parteimitglied komplett. Damit alles geheim abläuft, kann unter Pseudonym diskutiert und anonym abgestimmt werden, es wird nur das endgültige Ergebnis veröffentlicht. Nichtmitglieder können alle Texte lesen, aber nicht teilnehmen. Philipp Stiel sprach für die Achte Minute mit Sebastian Jabbusch, Mitglied der Berliner Piratenpartei und Experte für Liquid Democracy: Erst kürzlich schrieb er seine Magisterarbeit in Politikwissenschaft über das Thema.

Die Leser der Achten Minute sind herzlich dazu eingeladen, über das Thema zu diskutieren – nutzt die Kommentarfunktion unter diesem Artikel, um Eure Meinung über Liquid Democracy abzugeben!

Interview: „Debatte im Netz funktioniert nicht“

Achte Minute: Sebastian, ihr wollt die Bürger besser einbinden – aber eine Debatte lasst ihr in Liquid Democracy doch gar nicht zu!

Sebastian: Ja, eine echte Debatte gibt es in Liquid Democracy nicht: Debatten im Internet funktionieren nur mit einer Modera-tion, die löscht oder zur Mäßigung aufruft. Die Menschen verhalten sich im Internet einfach anders als im persönlichen Kontakt.

Achte Minute: Das klingt, als hättet ihr schlechte Erfahrungen gemacht?

Sebastian: Schau Dich online um: Facebook und Twitter mögen noch gehen – aber spätestens die Mailinglisten zeigen die Eskalation. Als Vorläufer des Internets sind sie einfach nicht geeignet, eine bedeutende Rolle in einer Organisation einzunehmen. Sie sind zu distanziert und heiße Debatten bringen die Leser an die Kapazitätsgrenze. Mailinglisten sind das Krebsgeschwür des Internets.

Achte Minute: Und jetzt?

Sebastian: Seit ihrer Gründung überlegt die Piratenpartei, wie eine demokratische Partei trotzdem zu Entscheidungen kommen kann, ohne in traditionelle Vorstandshierarchien zu verfallen. Debatten sind dann zwar toll, führen aber zu nichts: man kann keine Mehrheiten abbilden. Selbst wenn 80% auf der Mailingliste einer Meinung sind, können zwei bis drei diskussionswütige Trolle das Gefühl vermitteln, alles sei umstritten. Und das Schlimmste: Jeder dieser Ping-Pong-Diskurse sieht nach einem Patt aus, bei dem jede Seite die schweigende Mehrheit für sich reklamiert.

Achte Minute: Und ein Moderator wäre auch keine Lösung?

Sebastian: Das würde gegen die Piraten-Prinzipien eines hierarchiefreien Diskurses verstoßen. Ein Moderator hätte zu viel Einfluss auf die Parteientscheidung. Man stelle sich vor in der Wikipedia würde über jeden Streit ein Moderator entscheiden. Als Alternative sieht Liquid Feedback Mechanismen vor, die Debattenteilnehmer zu konstruktiven Beiträgen zwingen. „Kommentare“ gibt es nicht. Anregungen können nur Unterstützer schreiben. Gegner müssen eigenständige Alternativanträge formulieren oder sich eben mit dem „Nein“-Stimmen begnügen. Emotionale oder eskalierende Ja-Nein-Diskurse  werden so vermieden – ganz ohne Moderator.

Achte Minute: Ich muss sagen, als Debattant sind mir Gegenargumente aber wichtig. Sie zwingen mich zum Nachdenken.

Sebastian: Stimmt, die gibt es nicht in Liquid Feedback. Aber würden die Entwickler die Debatte erlauben und gleichzeitig den Anspruch erheben, der Ort der Entscheidung zu sein, dann würden sie erzwingen, dass alle Debatten in der Software stattfinden. Die Piraten befürworten aber eine reichere Debattenkultur mit Blogs, Twitter, Zeitungen. Um dennoch eine Verbindung zwischen diesen Debatten und der Plattform herzustellen, wird über die Möglichkeit nachgedacht, eine Verlinkung der Beiträge zuzulassen.

Achte Minute: War Liquid Democracy nie umstritten bei den Piraten?

Sebastian: Doch, aber die Kritiker werden weniger, gerade nach dem erfolgreichen Einsatz der Software zur Erstellung des Berliner Wahlprogramms und zur Vorbereitung des Bundesparteitag 2010. Das Ziel ist aber noch nicht erreicht. Viele möchten die  Ergebnisse von Liquid Democracy zur verbindlichen Partei-meinung machen, im Moment ist es nur eine Empfehlung für den Parteitag und den Vorstand. Dort ist jedoch unser Flaschenhals: nur 70 von 1700 in Liquid Democracy vorgeschlagenen Initiativen wurden schon auf einem Parteitag abgestimmt. Deshalb haben wir zu so vielen Themen noch keine offizielle Parteimeinung.

Achte Minute: Das sind aber viele Initiativen! Wie soll man denn da den Überblick behalten?

Sebastian: Deshalb gibt es Delegationen, denn du hast Recht: Basisdemokratie „skaliert nicht“. Basisdemokratie soll Liquid Democracy aber auch nicht sein. Vielmehr soll man hier vielmehr seine Experten wählen und abwählen. Direkt abstimmen musst Du nur dort, wo Du Dich selbst für einen Experten hältst oder es Dir wichtig ist. Niemand kann alles abstimmen oder gar alles wissen. Liquid Democracy ist kein Facebook-Clicktivism.

Achte Minute: Hast du schon mal delegiert?

Sebastian: Ja, an die Leute, denen ich vertraue. Spannender ist aber: Ich kann die Stimme jederzeit wieder entziehen und neu vergeben. Diese Möglichkeit habe ich bei der repräsentativen Demokratie nicht. Dort gebe ich meine Macht an der Wahlurne ab. Bei der flüssigen Demokratie bleibt die Macht bei mir.

Achte Minute: Bisher funktioniert Liquid Democracy nur parteiintern. Sind jetzt in Berlin die Bürger dran?

Sebastian: Das ist ein Systemkonflikt: Liquid Democracy ist mit der repräsentativen Demokratie nicht so einfach vereinbar. Könnten wir nur unsere Wähler für ein Liquid-Feedback-System zulassen, wäre es sicher vorstellbar. Da das aber nicht möglich ist (geheime Wahl), müssten alle mitmachen können. Dann wären die 130.000 Wähler der Piraten aber nur noch eine kleine Gruppe im System. Richtet sich die Piratenfraktion dann nach den Abstimmungen aus dem System, wäre das Gewicht unserer Wähler im Parlament minimiert. Solange wir in einer repräsentativen Demokratie leben, „muss“ die Piratenpartei ihre Wähler „repräsentieren“. Die repräsentative Demokratie kollidiert mit Liquid Democracy, sie würde nur funktionieren, wenn es von allen Parteien getragen wird.

Achte Minute: Und die Bürger? Es hieß auf euren Plakaten schließlich: „Wähl dich selbst!“

Sebastian: Die Bürger sollen zunächst in den Bezirken in der Plattform „BVVleaks“ und testweise in Liquid-Feedback-Systemen auf lokaler Ebene mitbestimmen können, für die gerade ein Verein gegründet wird. Und wer sich noch mehr einbringen will, dem steht ja frei, der Piratenpartei beizutreten und in Liquid Feedback mitzumachen.

Achte Minute: Eigentlich ist in Liquid Democracy vieles wie im Parlament. Aber Reden werden nicht geschwungen….

Sebastian: …und vielleicht ist das auch gut so, denn es ist ein diskriminierungsfreies System: Online kann jeder mitmachen, auch der unbegabte Redner, der Migrant, die alleinerziehende Mutter, die nur abends ein paar Stunden Zeit hat – und keiner muss wissen, wer man ist. Ich wirke allein durch mein Handeln in der Plattform.

Achte Minute: Ist das nicht langweilig, Politik nur am PC zu machen?

Sebastian: Es wäre schön, wenn es ginge – die Realität sieht natürlich etwas anders aus. Auch im Netz muss man sich Mehrheiten organisieren, Unterstützer finden. Die Software zwingt die Menschen zum Diskurs – gerade offline! Mit Liquid Democracy wird sicherlich nicht alles besser. Aber vielleicht hätten die Bürger viel mehr Einfluss auf die Entscheidungen der jetzigen Regierung. Nötig wär’s.

Achte Minute: Sebastian, vielen Dank für das Interview!

Philipp Stiel / apf

Dieser Artikel ist erschienen im aktuellen Newsletter des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen (VDCH) „Debattenkultur in Deutschland“ über das Thema „Debatten im Netz“. Der komplette Newsletter kann auf der Internetseite des VDCH heruntergeladen werden.

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5 Kommentare zu “Die Onlinedebatte als Politikinstrument: Interview mit einem Piraten”

  1. Alex (DD) sagt:

    Als bekennender Nicht-Pirat muss ich zugeben, dass Liquid Democracy auf den ersten Blick extrem gut ausgearbeitet und attraktiv erscheint. Allerdings frage ich mich, ob es wirklich so gut ist, Gegenmeinungen nur als Nein-Stimmen bzw. Gegenanträge zuzulassen. Ersteres ist nicht sonderlich konstruktiv, weil es ein Stumpfes „Gegen alles, für nichts!“ befördert – ich muss ja nicht sagen, wie man es besser machen kann, ich muss ja nur sagen, dass ich diesen Vorschlag blöde finde. Bei den Gegenanträgen sehe ich dagegen die Gefahr, dass dadurch die Meinungsfindung verwässert, da alles nebenher existieren darf, ohne dass es eine wirkliche Hierarchierung gibt. Das finde ich gerade bei kontroversen Themen etwas optimistisch, denn hier ist es durchaus denkbar, dass sich schnell mehrere Gegenanträge finden und am Ende alle Anträge mehr oder weniger die gleiche Anzahl an Pro- und Contra-Stimmen aufweisen. Dadurch ist es schwierig, eine tragbare Mehrheit zustande zu bekommen. Würden dagegen die Unterstützer zweier sich in wichtigen Punkten widersprechender Anträge dazu gezwungen, einen gemeinsamen Kompromiss bzw. dritten Vorschlag auszuarbeiten, der für die Mehrheit beider Unterstützergruppen tragbar ist, wäre das System deutlich konstruktiver.

    Darum muss ich sagen, dass ich befürchte, dass das System in seiner jetzigen Form eher zu einem starrköpfigen Nebeneinander statt konstruktivem Miteinander führt – wenn dir meine Meinung nicht passt, kannst du ja deinen eigenen Antrag stellen! Der in einer Demokratie so ungeliebte, aber unumgängliche Kompromiss kommt mir ein wenig zu kurz.

    Mir würde daher eher eine Mischung aus Wiki und Abstimmung gefallen – ein einziger Antrag zu einem Thema in einer Art Wiki, den die Nutzer Befürworten oder Ablehnen können. Nacheinander kann jeder, der zu dem Thema abstimmt (sozusagen die „Experten“), den Antrag derart ändern, dass er seiner Meinung nach besser wird. Danach hat jedes Mitglied die Möglichkeit, seine Stimme zu ändern. Lehnen nach der Änderung mehr Leute den Antrag ab als vorher, wird die Änderung verworfen; befürworten mehr Leute den Antrag als vorher, bleibt sie erhalten. Danach kann der nächste Teilnehmer bei Bedarf eine Änderung vorschlagen usw. Auch zwischendurch können natürlich die Stimmen jederzeit geändert werden, wenn sich z.B. die eigene Meinung ändert. Auch dieses System ist alles andere als perfekt – vor allem viel zeitaufwändiger – kommt aber dem viel näher, was ich mir vor diesem Interview unter Liquid Democracy vorgestellt habe: Eine sich ständig im Fluss befindende Meinung, die von allen mehr oder weniger mitgetragen werden kann.

  2. Es steht Dir natürlich frei eine alternativen Ansatz zu entwickeln. Lass Dir jedoch versichert sein, dass hinter Liquid Feedback mehr gedanken stehen, als in diesem kurzen Interview unter kommen konnten. Ausführlich beschrieben, findest Du die Idee der Liquid Democracy in meiner Magisterarbeit unter http://demokratiepiraten.blogspot.com/.

  3. Dominic sagt:

    Schau Dich online um: Facebook und Twitter mögen noch gehen – aber spätestens die Mailinglisten zeigen die Eskalation. Als Vorläufer des Internets sind sie einfach nicht geeignet, eine bedeutende Rolle in einer Organisation einzunehmen. Sie sind zu distanziert und heiße Debatten bringen die Leser an die Kapazitätsgrenze. Mailinglisten sind das Krebsgeschwür des Internets.

    IBTD – Das liegt wohl eher an der fehlenden Kompetenz der User, als am Medium. Früher, als es ausschliesslich Mailinglisten, das Usenet oder ähnliche Konstrukte gab (Stichwort: GABELN), über die man miteinander ins Gespräch kommen konnte, war es allgemein üblich, darauf zu achten, dass gewisse Umgangsformen eingehalten wurden. Die geschah anhand eines „Netiquette“ genannten Textfiles, auf welches fallweise verwiesen und dessen Beachtung strikt eingefordert wurde. Wer dies nicht befolgen wollte oder konnte, der landete früher oder später in den score-/killfiles – wurde also vom User selbst aussortiert und konnte sich dann erstmal mit sich selber unterhalten.

    Eine übergeordnete Autorität, die hier den Gatekeeper spielt, braucht es dafür eigentlich nicht – Medienkompetenz vorrausgesetzt.

    Wollte ich nur einmal anmerken – zum Rest: LQFB finde ich spannend und hoffe, dass es sich bewährt und weiter entwickelt.

    Schöne Grüsse,
    Dominic

  4. Anja Pfeffermann sagt:

    Uff! Aküfi ist kurz für Abkürzungsfimmel. Und IBTD heißt „I beg to differ“, ich bitte hier zu differenzieren. LQFB schließlich – na, wer errät’s? – steht für LiquidFeedback. Für die nicht so eingeweihten Leserinnen und Leser.

  5. Alex (DD) sagt:

    @Sebastian:

    Ich wollte mit meinem Beitrag keineswegs unterstellen, dass die Piraten sich nichts bei LiquidFeedback gedacht hätten. Auch wenn ich vielleicht meine Zweifel daran habe, ob das System mich ganz persönlich zufrieden stellen würde, ändert es ja nichts an der Tatsache, dass LQFB (um die oben eingeführte Abkürzung weiter zu nutzen) wesentlich direkter ist als alles, was es sonst derzeit in der deutschen Parteienlandschaft an Mitbestimmung durch die Basis gibt.

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