„Rede mit mir, nicht über mich“ – Philipp Stiel über das Potential von Publikumsdebatten

Datum: 11. September 2013
Redakteur:
Kategorie: Menschen, Mittwochs-Feature, Politik und Gesellschaft

„Rede mit mir, nicht über mich“ – das scheint das neue Motto unserer Zeit zu sein. Weg von der frontalen Ansprache, hin zum Dialog. Weg von der Einbahnstraße, hin zur „Zwei-Richtungs-Kommunikation“. Ob es das digitale Fernsehen ist, dass sich den Einflüssen der Zweibahnstraße stellen muss oder die Parteien – neue Technologien machen es möglich. Nachdem man zu Zeiten von Stuttgart 21 die Townhall-Meetings auch in Deutschland entdeckte, versuchen sich inzwischen fast alle Parteien (mehr oder weniger erfolgreich) an der Bürgerbeteiligung.

Publikum im Finale der ZEIT DEBATTE Hamburg 2013  (c) M. Carcasona

Publikum im Finale der ZEIT DEBATTE Hamburg 2013

Neuerdings geht sogar der selbst ernannte „Klartext-Peer“ mit seinen Dialogformaten auf Wahlkampftour und erhört in Fragestunden die Meinung der Bürger. Und der Realitätscheck zeigt doch tatsächlich: Nachdem die Zuschauer den üblichen mindestens 20minütigen Politikermonolog überstanden haben, kommt in der Tat so etwas wie eine Konversation auf. Diesen neuen Trend hat nun auch das Fernsehen entdeckt: erstmals zeigte das ZDF am 15. August unter der Moderation von Theo Koll eine Publikumsdebatte zur These „Die Alten leben auf Kosten der Jungen“.
Doch hat nicht jede Debatte ein Publikum? Nun ja, das schon – aber nicht jede Debatte hat ein Publikum, das aktiv mitredet. Genau diese Lücke schließt die Publikumsdebatte, die sich häufig nach dem großen Vorbild auch Oxford Debate nennt. In Deutschland kam die Publikumsdebatte im Übrigen erstmals 1991 an einer Universität an: Damals schrieb unter anderem Ansgar Kemmann, heute Leiter von Jugend debattiert in Deutschland, für die Tübinger Debatte die Regeln einer Publikumsdebatte nieder, die sich auch am Oxford-Stil orientierte. Diese Debatten haben traditionell zwei Kernelemente: kurze Reden vom Pult der Pro- und der Contra-Seite zur Einführung und eine ausführliche Frage-Antwort-Teil im Folgenden.

Zwang, sich kurz zu fassen

Nun mag es für einen Außenstehenden keinen großen Unterschied machen, ob eine Debatte jetzt ein Publikum hat, das lediglich zuhört oder eines, das sich aktiv einbringt. Für die Debatte allerdings ändert sich einiges: Zunächst einmal wird durch die Publikumseinbindung der Redeanteil der Podiumsredner unweigerlich kürzer – und zwar auf die gesamte Debatte gesehen genauso wie bei einzelnen Statements. Das zwingt den Redner, sich knapper zu halten, präziser zu formulieren und schneller auf den Punkt zu kommen.
Die Aussicht, gleich mit den Fragen des Publikums gelöchert zu werden, sorgt aber nicht nur für mehr Präzision und Kürze: Sie verhindert auch, dass die Redner zu stark vom Thema abkommen. Ausflüge ins Weite des Universums lassen sich nämlich nur dann vornehmen, wenn danach genügend Zeit ist, wieder ins Diesseitige zurück zu kommen.

Überhaupt spielen die Fragen des Publikums eine zentrale Rolle für die Debatte: in keinem anderen Debattenformat, schon gar nicht in den studentischen Debattierclubs, müssen die Redner so viele Fragen beantworten, werden von allen Seiten gelöchert und müssen sich für jede ihrer Aussagen rechtfertigen. Die Redner erhalten so schneller einen Blick für das, was ihr Publikum wirklich akzeptiert hat und wo noch Zweifel bestehen. Diese Form der Rückmeldungen können weder Applaus, Zwischenrufe noch ein Kopfschütteln ersetzen.
Dass das Sich-Bewegen in einer von der Rednerliste geführten Aussprache nicht einfach ist, merken Besucher von Publikumsdebatten aber recht schnell. Denn während der eigene Redebeitrag auf der Rednerliste noch schlummert, bewegt sich die Debatte mit ihren Fragen rasend schnell in andere Blickwinkel. Für die Fragesteller, aber auch für die Podiumsredner mit ihren eigenen Beiträgen ist daher Flexibilität eine der größten Herausforderungen: wer sich auf das aktuelle Streitthema einstellen kann, ist klar im Vorteil – und wer eine Ersatzfrage hat, ebenso. Nicht umsonst fallen die Teilnehmer einer Publikumsdebatte nur allzu häufig in die Fallen klassischer Vereinsmeetings: Wiederholungen von Beiträgen in anderen Worten (frei nach dem Motto, es wurde noch nicht alles von allen gesagt), Fragen die sich auf eine Aussage von vor 10 Minuten beiziehen und eine Frontalansprache, die unpassender Weise mitten aus dem Publikum gehalten wird.

Dialogfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kontaktfähigkeit sind oberstes Prinzip

Was bringt das den Teilnehmern? Frei nach Ansgar Kemmann, der vor einigen Monaten hier an gleicher Stelle die „Mehrsprachigkeit“ der Debattierer und Debattanten einforderte, schult eine Publikumsdebatte andere Rednerqualitäten als die „klassischen Formate“ der Debattierclubs. Es sind die Qualitäten, die sich vor allem auf der Vereinsversammlung, in Sitzungen oder auf freier Bühne ohne Pult auszahlen. Denn wer dort mit einer 7-minütigen Rede nach dem Einleitungs-Hauptteil-Schluss-Prinzip ankommt, hat gleich verloren. Dialogfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kontaktfähigkeit sind nun oberstes Prinzip. Wer jetzt noch eine Frage mit einem „Rebuttle“ beantwortet, wird wenig erfolgreich sein – die Zwischenrede der OPD lässt grüßen.
Doch so sehr eine Publikumsbeteiligung neue Impulse liefert, so unkalkulierbar ist sie – der Albtraum eines jeden Veranstalters. Denn wer das Publikum einlädt, muss es auch anhören wollen. Wer jetzt an endlose Kommentare denkt, die nicht mal mehr als Frage getarnt werden oder an Gäste, die überhaupt nicht zum Thema reden, sondern ihr Herz über die letzte Reform der Bundesregierung auszuschütten, liegt ganz richtig.

Wer jetzt aus einem Debattierclub kommt und das traditionelle Debattenformat ohne große Frage- und Publikumsbeteiligung gewohnt ist, wird sich Fragen: Ist es das wert?
Ja, ohne Zweifel! Denn nur wer das Publikum als wertvoll akzeptiert, ist wirklich gewillt, es zu überzeugen. Und genau hier hilft die Publikumsdebatte wie keine andere. Denn nur durch die Fragen des Publikums lassen sich Schwachstellen enttarnen und erkennen, wie die eigenen Worte ankommen.

Aber noch etwa ganz anderes spricht für die Publikumsdebatte: ihre urdemokratische Konstruktion. Denn wer wirklich an die Demokratie als politische Kraft glaubt, die vom Volk aus gestaltet wird, der muss es auch anhören. Und wer wenn nicht die Debattierclubs können mit ihrer Kompetenz helfen, diesen Dialog zu strukturieren und zu begleiten.
Nur eines ist klar: Eine Debatte braucht immer noch zwei Seiten, braucht immer noch ein Pro- und ein Contra, an dem sich das Publikum abarbeiten kann. Die Politiker, die diese Gegensätze nicht mehr herstellen wollen, verhindern die Debatte – und damit auch den demokratischen Streit zwischen Alternativen.
Auch wenn es die frontalen Rhetoriker schmerzt: Die Zukunft der Rede ist definitiv keine Einbahnstraße. Es sind die kleinen Debatte vor Ort, in der das Publikum mitmischt, in der ein direkter Draht zwischen Rednern und Zuhörern wieder wichtig wird. Dort findet die Debatte der Zukunft statt. Dass Debattierclubs zu diesen Debatten ihren Teil beitragen können, liegt auf der Hand.

Text: Philipp Stiel/ tk/kem

Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: jeden Mittwoch ab 9.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Philipp Stiel ist Deutscher Meister im Debattieren 2010 und Bester Finalredner der DDM 2009. Er war Sieger der ZEIT DEBATTE Wien 2009 sowie Chefjuror mehrerer Turniere, darunter die ZEIT DEBATTE Tübingen 2012 und der Bodden-Cup 2013. Von 2011 bis 2013 war er Mitglied des VDCH-Vorstands, zunächst als Vizepräsident für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, ab August 2012 als Präsident. Er studierte in Tübingen, Chile und den USA Volkswirtschaftslehre. Derzeit arbeitet er für eine Bundestagsfraktion im Bereich Finanzpolitik in Berlin.

Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe des Newsletters “Debattenkultur” des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen (VDCH). Die Augustausgabe des Newsletters dreht sich um das Thema “Rede mit mir nicht über mich: Die Publikumsdebatte” und kann auf der Internetseite des VDCH heruntergeladen werden.

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