Wie das Debattieren der Diskussion schaden kann: Christina Dexel über Diskussionskultur

Datum: 13. Mai 2015
Redakteur:
Kategorie: Mittwochs-Feature

Dieser Text soll kein leidenschaftlicher Aufruf für das Amt des Equity Officers werden. Ich bin der Meinung, dass es nicht an Argumenten fehlt, sondern dass wichtige und relevante Argumentationen an der aktuellen Diskussionskultur scheitern. Deshalb ist dies vielmehr ein Appell. Ein Appell, sich nicht argumentativ zu verbeißen, nur weil ein Thema in „unseren Debattierkulturraum“ eindringt, das für einige neu und in jedem Fall sehr umstritten ist.

Ich möchte erklären, welches Problem ich zum Teil in der aktuellen Diskussionskultur sehe. Die Diskussion zum Umgang mit dem Equity-Amt ist hierfür der Auslöser, ich beziehe mich aber auf das Debattieren und seinen Einfluss auf unser Diskussionsverhalten allgemein. Dabei möchte ich nicht als die von einigen sehr gefürchtete „Political Correctness-Polizei“ auftreten und dementsprechend abgeschrieben werden. Dies ist keine Anklage einer bestimmten Seite und ich nehme mich vor allem selber nicht davon aus. Stattdessen hoffe ich einen konstruktiven Beitrag für zukünftige Diskussionen zu leisten, denn ich glaube, dieses Thema wird uns noch eine Weile begleiten und andere umstrittene Vorschläge werden folgen.

empathieIch habe lange geglaubt, dass das Debattieren vor allem einen entscheidenden Vorteil für unsere persönliche Entwicklung mit sich bringt: Empathie. Was verstehe ich darunter? Empathie ist für mich zum einen Fähigkeit und zum anderen Prozess. Es ist keine spontane Reaktion, die man in bestimmten Situationen hat, wie beispielsweise Mitleid. Im Unterschied dazu bedarf es einer eigenen Anstrengung, um empathisch zu sein. Für mich beschreibt Empathie den notwendigen Prozess, um von Unverständnis und Ablehnung zu Mitgefühl zu kommen. Mitgefühl bedeutet in diesem Fall eine andere Person und ihre Situation verstehen und nachvollziehen zu können. Inwiefern ist das anders, als für jemanden Mitleid zu empfinden? Wie gesagt glaube ich, dass Mitleid meistens eine spontane Gefühlsregung ist, die sich uns sehr viel leichter eröffnet, und zwar wenn wir mit Situationen konfrontiert sind, die ein für uns offensichtliches Problem oder offensichtliches Leid aufzeigen. Hier ist es leicht mit-zu-fühlen, weil es leichter fällt, sich selbst in einer ähnlichen Lage vorzustellen.
Anders ist das bei Situationen, die für uns persönlich zunächst unzugänglich sind. Es kann sich um eine Situation handeln, die neu für uns ist oder die wir aus unserem persönlichen Kontext ganz anders bewerten würden. Das ist nun der Punkt, bei dem die Reaktion oder das Verhalten einer anderen Person zunächst auf Unverständnis oder sogar Ablehnung stoßen kann. Das Sich-hinein-versetzen ist entweder nicht möglich oder führt zu einer ganz anderen Bewertung der Umstände. Hier ist nun eine Anstrengung nötig, um sich von dem eigenen Standpunkt teilweise zu lösen und eine objektivere Betrachtung der anderen Position zu ermöglichen. Das heißt nicht, diese am Ende selber anzunehmen und die eigene zu überwinden, aber es heißt, sie nachvollziehen zu können, und die Anstrengung hierzu heißt empathisch zu sein.

Ich war der Meinung, dass die Notwendigkeit, verschiedenste Positionen in den Debatten anzunehmen, genau hierfür zum Instrument werden kann. Denn muss man nicht Runde für Runde die Anstrengung aufbringen, sich einer bestimmten Meinung und Argumentation zu öffnen, um diese vertreten zu können? Nach und nach muss ich jedoch einsehen, dass der Moment, in dem der Draw bestimmt, was wir in der nächsten Runde vertreten, zwar entscheidend ist, allerdings weniger, weil wir hierbei lernen, uns empathisch in eine andere Position hineinzuversetzen, sondern vielmehr, weil wir uns diese Position um jeden Preis zu Eigen machen müssen. Zumindest für mich ist das eine Grundvoraussetzung, um bei diesem Wettkampf der Argumente erfolgreich zu sein. Ich muss die Juror*innen, die anderen Teams und nicht zuletzt mich selbst davon überzeugen, dass ich die stärkste Argumentation vertrete, deren Überzeugungskraft auch durch die gegnerischen Argumente nicht beeinträchtigt wird und gleichzeitig noch die Schwächen eben dieser offenlegt. Dabei gibt es keinen Raum für Kompromiss, Einsicht und Irrtum. Ich verbeiße mich also vielmehr in diese Position und lasse sie für die nächsten 56 Minuten nicht los.

Ich persönlich glaube, dieses sportliche Streben hat Folgen, die länger anhalten als die 56 Minuten einer Debatte. Sie halten an in der Zeit, in der wir auf Feedback warten: gespannt, manchmal ängstlich aber vor allem noch angestachelt von der soeben unnachgiebig verteidigten Position. Sie lassen während des Feedbacks nicht nach, was auch Juror*innen oftmals direkt zu spüren bekommen. Und auch die Gespräche auf dem Weg zum nächsten Draw, zur nächsten Position und die Party sind davon nicht ausgenommen. Dann verlassen wir das Turnier und treffen auf andere Situationen, in denen wir wieder eine bestimmte Meinung vertreten – vielleicht unsere eigene, vielleicht aber auch eine die wir uns aus Prinzip oder in Abgrenzung zu einer anderen angeeignet haben. Und in genau diesen Situationen scheinen wir dieselbe Herausforderung zu suchen, die wir aus den Debatten kennen. Die eingenommene Meinung wird mit allen Mitteln verteidigt, schließlich bedeutet das, überzeugend zu sein und argumentative Stärke zu beweisen.

Das führt dazu, dass Debattierer*innen auch in Diskussionen außerhalb der Debattenräume jedes Argument der anderen Seite als Angriff auf die eigene Meinung und Argumentation empfinden, mit zwei Folgen: Erstens verlieren die Argumente des Gegenübers ihre Integrität, also nicht lediglich ein Angriff, sondern Bestandteil einer Meinung zu sein, die sich aus einem anderen persönlichem Kontext, einer anderen Weltanschauung gebildet hat. Zweitens sind wir zu sehr damit beschäftigt, die eigene Argumentation gegen diese “Angriffe“ abzuschotten und immer wieder neu zu untermauern, als dass wir die Möglichkeit nutzen würden, sie kritisch zu prüfen, eventuelle Irrtümer einzusehen oder Kompromisse zwischen den Standpunkten zu erkennen.

Ich möchte nicht unterstellen, dass eine solche Unnachgiebigkeit eine an sich schlechte Eigenschaft ist, aber ich würde sie zumindest in bestimmten Kontexten als problematisch bezeichnen. Es ist problematisch, wenn wir nicht mehr realisieren, dass es Situationen gibt, in denen ich gerade dann überzeugend bin, wenn ich auf mein Gegenüber zugehen kann, gerade dann Stärke zeige, wenn ich diesem etwas zugestehen kann, dem ich selber widersprechen würde. Es ist problematisch, wenn ich nur noch auf den nächsten Einsatz, den nächsten Post zu warten scheine, um meinem Gegenüber mit seiner/ihrer empfundenen Ignoranz zu konfrontieren und dabei selber ignorant werde. Es ist problematisch, wenn ich mein eigenes Unverständnis für eine andere Person und ihre Meinung nicht auflösen möchte, sondern es dieser vielmehr immer wieder vorwerfe.

Deutschsprachige Meister B 2014 Christina Dexel Philip Schröder

Christina Dexel (r.) mit Teampartner Philip Schröder nach ihrem Sieg beim Finale der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2014 in Berlin (c) Florian Umscheid

Ich denke nicht, dass wir das Debattieren außerhalb der Debatten hinter uns lassen müssen. Vielmehr sollten wir versuchen, es als das Instrument zum empathischen Verhalten zu nutzen, das es meiner Ansicht nach immer noch sein kann. Dafür muss man vielleicht einfach nur den Fokus verschieben, auf andere Aspekte, die auch essentieller Bestandteil von erfolgsversprechendem Debattieren sind. Die Tatsache zum Beispiel, dass ich keine starke und standfeste Argumentation aufbauen werde, wenn ich gegenüber den gegnerischen Punkten zu herablassend bin, um sie ernst zu nehmen (#takethemattheirstrongest). Der Fakt, dass der Draw eben nicht nur bedeutet, mir eine Position unnachgiebig anzueignen, sondern dass er auch die Akzeptanz von Ansichten, die den meinen widersprechen, voraussetzt. Und gerade diese Akzeptanz befähigt mich zum Weiterdenken, um Stärken und Schwächen des Anliegens zu identifizieren und zu verstehen. Mehr Empathie in unserer Diskussionskultur bedeutet, die Argumente der Anderen als Bestandteil einer legitimen Meinung anzuerkennen und nicht als argumentativen Angriff, den es abzuwehren gilt. Es bedeutet, den Versuch zu unternehmen, diese andere Meinung als Ergebnis einer anderen Lebensrealität, eines anderen persönlichen Kontextes nachzuvollziehen. Das räumt der anderen Sichtweise eine Legitimität ein, die es mir erlaubt, meine eigene in Abgrenzung hierzu kritisch zu hinterfragen. Gerade Diskussionen, bei denen wir am Ende keine/n Sieger*in suchen, sondern eine Einigung anstreben, werden davon profitieren.

Ich appelliere dafür, gerade diese Möglichkeit der Empathie gegenüber dem gnadenlosen Argumentieren um des Argumentierens willen in der jetzigen und in ähnlichen Diskussionen nicht aus den Augen zu verlieren. So kann und sollte uns das Debattieren dabei helfen, empathischer und offener auf andere Meinungen und Lebensrealitäten zuzugehen. Es sollte uns auf jeden Fall dazu bringen, respektvoll zu sein. Respektvoll meinen Diskussionspartner*Innen gegenüber, aber auch respektvoll sensiblen Themen gegenüber. Gerade diese sollten nicht zum Schlachtfeld unserer Argumente werden. Das ist sicher nicht immer leicht, weil ja oft gerade solche Themen leidenschaftliche und sehr standhafte Meinungen hervorrufen, von denen man nur schwer abweichen und Zugeständnisse machen will. Ich denke aber genau das sollte unser Anspruch sein. Wir sollten die Rücksicht haben, zu bedenken, dass Menschen von einem Thema direkt betroffen sein können, vielleicht in einer Weise, die für uns selber nur schwer nachvollziehbar ist. Es zeigt argumentative Stärke, wenn ich solche Aspekte mit berücksichtige, obwohl sie mich nicht direkt selber betreffen und vielleicht schwer zu verstehen sind. Eine solche Form von Umsicht in die Argumentation mit einzubauen, macht uns zu guten Debattierenden. Genau das sollten wir aus den Debattenräumen mitnehmen.

Christina Dexel/hug

Mittwochs-Feature

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Christina Dexel ist deutschsprachige Debattiermeisterin 2014. Sie debattiert bei der Berlin Debating Union und studiert an der Freien Universität Berlin.

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5 Kommentare zu “Wie das Debattieren der Diskussion schaden kann: Christina Dexel über Diskussionskultur”

  1. Lennart Lokstein sagt:

    Interessant – ich sehe das Debattieren meist vorallem als Anregung, eigene Gedanken zu hinterfragen, weniger als Raum, eigene Gedanken zu festigen, oder aber auch, sich überhaupt Gedanken zu machen und Meinungen zu bilden. Das geschilderte Phänomen habe ich persönlich bislang allerdings als nicht besonders präsent wahrgenommen. Es schadet jedoch sicherlich nicht, es im Hinterkopf zu behalten.
    Was wahrscheinlich dennoch in dem von dir angesprochenem Komplex noch zu betonen bliebe, ist, dass nicht nur jeder ein Recht auf seine Meinung hat, sondern dass sich aus der eigenen Meinung nicht notwendigerweise Handlungsmaximen für andere ergeben. Ich glaube, das ist in einer Diskussionskultur ebenfalls problematisch.

  2. Jonas und Teresa (Münster) sagt:

    Danke an Chrissi, für ihren wirklich wertvollen Beitrag! Vor allem, wenn man schon etwas länger beim Debattieren dabei ist, beobachtet man an sich selbst einen gewissen Erkenntnisprozess, der sich über die Jahre entwickelt. Die Herausbildung von „Empathie“, oder wie wir es lieber nennen würden „Achtsamkeit“, gehört dazu.

    Durch das Anhäufen von ganz viel Wissen zu ganz vielen Themenfeldern – und am Anfang ist jedes Debattenthema neu und reich an Erkenntnissen – stellt sich irgendwann ein Überblick an Lebensrealitäten und Argumenten ein. Während dieses Zeitraums ändert man glauben wir in sich drin ständig seine Einstellung zu bestimmten Themen oder sagt sogar „ich habe dazu noch nicht wirklich eine Meinung, ich weiß darüber noch zu wenig“. Wenn man an dem Punkt angekommen ist, an dem man einen ungefähren Überblick gewonnen hat, manifestieren sich immer mehr Meinungen zu bestimmten Themen und man beginnt für bestimmte Lebensrealitäten bestimmte Argumente schwerer oder leichter zu gewichten. Zu diesem Zeitpunkt kommt es auch dazu, dass man beim Anblick eines Themas und des dazugehörigen Draws nicht mehr einfach nur denkt „was sind meine Argumente?“, sondern immer auch denkt „über was möchte ich wirklich reden? Wie schaffe ich es mit meinen 7 Minuten Redezeit etwas Relevantes auszusagen? Und was werde ich auf keinen Fall argumentieren, weil ich es einfach nicht argumentieren möchte?“. Man beginnt also sich Debatten zu eigen zu machen, unabhängig davon welche Seite einem zugelost wurde. Stets geleitet von ganz individuellen Einstellungen, die man sich über die Zeit des Argumente- und Faktensammelns angeeignet hat.

    Was allerdings bleibt, ist die Fähigkeit zu erkennen, dass die Wertung, die man bestimmten Argumenten zuweist, eine individuelle ist und keine objektive. Wenn man nach Jahren der Beschäftigung mit den verschiedensten Argumenten und Sachverhalten nicht dazu fähig ist anzuerkennen, dass andere Argumente und Wertungen des Sachverhalts Legitimität besitzen, dann stellt das sicher ein Indiz für einen zweifelhaften Charakter dar oder auch dafür, dass vielleicht der Wille fehlt, sich auf eine Diskussion einzulassen, und deshalb der Weg des geringeren Widerstands das Beharren auf der eigenen Sichtweise ist.

    Was hat das nun alles mit der Diskussion über das Amt des Equity-Officers zu tun? Beim ersten Hinsehen sehr viel, beim zweiten Hinsehen sehr wenig. Bei der (auf einer privaten Pinnwand geführten) Diskussion zum Begriff „Feel Good Officer“ war mit Sicherheit wenig Empathie vorhanden. Das lag aber unserer Ansicht nach nicht an einem debattierinhärenten Phänomen der Empathielosigkeit, sondern ist ein generelles Problem von online geführten Diskussionen.

    Es gab ja tatsächlich auf dem Kick-Off in Frankfurt eine mündliche Diskussion zum Thema Equity – besonders zur Frage der Sanktionsmöglichkeiten, die Equity-Officern gegeben sein sollen. Unserer Wahrnehmung nach haben sich die Diskussionsteilnehmer mit dem Thema in keiner Weise leicht getan. Gerade weil es viele gute Argumente für Equity in dieser Form gibt. Diese sind auch in dieser Diskussion zur Sprache gekommen und wurden unserer Ansicht nach auch von den Anwesenden verstanden und daraufhin individuell gewichtet. Dass sich am Ende eine Mehrheit der Anwesenden gegen Equity Officer mit Sanktionsmöglichkeit ausgesprochen haben, ist für uns kein Verbeißen in ein Argument, weil etwas in „unseren Debattierkulturraum“ eindringt, sondern die Entscheidung von Individuen, die nunmal die Argumente dagegen als schwerwiegender ansehen, als die Argumente dafür. Jetzt wäre es natürlich schön gewesen, einen Kompromiss zu finden, der beiden Seiten in dieser Situation gerecht wird – das ist in diesem Fall auf dem Kick-Off nicht geschehen. Wir glauben aber nicht, dass dies an der Unfähigkeit von Debattierenden zu Kompromissen liegt, sondern, weil es sich hier um ein für das VDCH-Land komplett neues Thema handelte und es erstmal darum ging überhaupt heraus zu finden wie die Meinungslage im VDCH Land dazu aussieht. Klar war nach der Diskussion lediglich, dass Equity Officer mit Turnierausschluss als Sanktionsmöglichkeit vorerst nicht erwünscht sind.

    In diese Situation hinein haben wir als DDM Ausrichter versucht einen ersten Schritt in Richtung eines Kompromisses zu gehen, der vom VDCH-Land akzeptiert werden kann. Anscheinend ist uns das erstmal nicht gelungen. Wobei wir glauben, dass sich die Aufregung mehr um den Begriff selbst als die dahinter stehende Idee dreht. Leider haben wir das Gefühl, dass ein konsensfähiger Kompromissvorschlag bisher von niemandem vorgetragen wurde. Anstatt also dazu aufzurufen, auf die Argumente der anderen Seite zu hören und diese zu verstehen, würde ich mich über einen sinnvollen Kompromissvorschlag freuen, der eben dies tut. Sonst bewegen wir uns nicht aufeinander zu, sondern beharren alle weiter auf unseren, allseits verstandenen, aber verkrusteten, Meinungen.

  3. Jörn(Duisburg) sagt:

    Eins der häufigsten Wörter in diesem Beitrag und seinen Kommentaren ist „Draw“. Mich interessiert, welche Bedeutung dieses Wort hat. Ich meine dabei nicht, welcher Moment eines Debattierturniers damit gemeint ist. Ich meine: Warum wird das deutsche Wort „Setzung“ durch das englische Wort „Draw“ ersetzt? Mir hat die Verwendung des Worts „Setzung“ immer eingeleuchtet, denn zu meiner Zeit war es sehr deterministisch, ob man Regierung oder Opposition (oder je nach Format auch möglich: FFR) war. Durch die Eingabe der Teams und Teammitglieder in das Programm war zumindest für die Vorrunde eindeutig, wer gegen wen in welcher Rolle antritt. Für den Zufall war dort aus Gründen der Fairness und der Technik wenig Platz. Aber vielleicht habe ich den Zufall auch nicht erkannt.

    Die Bedeutung des Worts „Draw“ ist in meinen Augen Sinnbild für zwei weiterführende Fragen an den Aufschlag der Diskussion:

    1.) In den letzten Monaten habe ich mehrfach den Eindruck gewonnen, dass englische Begriffe in AM-Beiträgen verwendet werden, die den Autoren wichtig erscheinen mögen, aber in der Argumentation doch keine Berechtigung erlangen. Meiner Ansicht erlangen fremdsprachliche Begriffe eine Berechtigung, wenn sie etwas ausdrücken, das in unserer Sprache nicht ausgedrückt werden kann, oder wenn diese Begriffe diskutiert werden. Beides ist hier nicht der Fall, genauso verhält es sich mit „wording“. Stattdessen erschwert die Verwendung des Begriffs das Lesen, weil ich mir erst überlegen muss, was das Wort in diesem Kontext bedeuten könnte. Die beiden Beispiele und ähnlich Ersetzungen mögen für diejenigen, die fleissig international debattieren, gebräuchlich sein. Die Mehrheit der Lesenden hier sind aber weniger auf internationalen Turnieren unterwegs und nutzen daher wohl weiterhin die deutsche Fachsprache. Es zeugt daher von weniger Empathie, wenn man fremdsprachliche Wörter in dieser Art benutzt. (Im Übrigen denke ich, dass der sinnvolle Gedanke, über die Definition sprich Funktion eines Equity Officers zuerst nachzudenken und ihn anschließend einzuführen, ein sehr gutes Beispiel dafür ist, warum man sich um Verständigung statt Profilierung bemühen sollte…)

    Zweitens sollten wir einen Blick darauf werfen, was denn bei unseren Debatten tatsächlich zufällig ist: Man kann das Debattieren derart verstehen, dass eine Debatte von einem Thema, welches eine Maßnahme anzeigt, zu einem Wertekonflikt verhandelt wird. Das Ziel ist es dann, den Wertekonflikt aus dem Thema herauszulösen und seine Redestrategie daraufhin zu wählen. Der Zufall liegt dann darin, dass die identifizierten Werte der zu vertrenden Seite mit meinen tatsächlichen übereinstimmen können oder davon abweichen können. Je nach Zufall kann ich innerlich also vor einer Wertekollision stehen. Lange habe ich das Debattieren so verstanden und ich kann die oben daran anknüpfenden Gedanken nachvollziehen. – Wenn wir uns aber abseits unseres Sports politische Entscheidungen ansehen, so zeigt sich doch, dass ähnliche Maßnahmen aus unterschiedlichen Gründen vollzogen werden können und gleiche Werte zu Argumenten für und genauso gegen Maßnahmen führen können. Das beste Beispiel sind Kriege… Daraus lässt sich ableiten, dass eine Debatte uns vor die Herausforderung stellt, für oder gegen eine Maßnahme zu sein, aber es ergibt sich keineswegs zwingend eine Wertekollision zwischen den durch die Rolle implizierten Werte und unseren tatsächlichen Werten. Mit anderen Worten: Die eigentliche Herausforderung der Debatte liegt darin, zufällig für oder gegen eine Maßnahme AUF GRUNGLAGE meiner Werte zu argumentieren. Versteht man das Debattieren so, kann man eigentlich nicht mehr dem Irrglauben unterliegen, eine tatsächlich von mir abgelehnte Maßnahme könne nur von jemandem befürwortet werden, der andere Werte besitzt. In Menschen mit anderen Werten kann ich mich nur sehr schwerlich reinversetzen. Ich kann das logisch nachvollziehen, aber die Bewertung seiner Argumente bleibt dann doch eine emotionale. Gehe ich hingegen davon aus, dass man die von mir tatsächlich abgelehnte Maßnahme auch auf Grundlage meiner Werte befürworten kann, kann ich mich tatsächlich weniger emotional mit der Argumentation beschäftigen. – Somit schadet es sicherlich nicht, wenn wir uns noch einmal fragen, in welcher Weise wir „Draw“ verstehen. Unsere persönliche Antwort darauf hat Einfluss auf die Frage, in welcher Weise uns das Debattieren nutzen kann. Ich persönlich finde es darüber hinaus auch wichtig zu fragen, ob wirklich deutsche Fachsprach ersetzt werden muss…

  4. Simon Villa Ramirez sagt:

    Eine Lanze für die Empathie!

    An diesem provokantem Titel und seinem Text gelernt habe, ist welche Prioritäten gelten können für das Debattieren als Sport und das Reden mit anderen an sich.
    Die Priorität, die ich wahrgenommen habe, ist die der Empathie, des intentionalen Hinein-versetzen-Könnens. Aber wie kann diese Priorität für diese beiden Arten des Redens gelten?
    In wirklichen (nicht zufällig gesetzten) Diskussionen und Debatten ist diese Priorität eine Voraussetzung für ein auskömmliches Ergebnis, welches nicht in maßlosem Streit enden soll.
    Doch stellen Debatten als Sport eine eins zu eins Blaupause für künftige Diskussionen und Debatten dar? Sollen sie das?
    Aus meiner Sicht kann diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden. Für ihre Beantwortung muss sie aber den besonderen Status einer Debatte als Sport zur Kenntnis nehmen. Was ist eine Debatte, ein Gespräch, in der ich nicht meine eigene Position vertrete? Im Grunde ja eigentlich ein Spiel, eine Reduktion meines Selbst auf eine bloße Position zugunsten der Schaffung eines nicht-realen Raumes.
    In diesem Raum, wo nichts real ist, mein Handeln keine wirkliche Konsequenz hat, dort ist der Platz, die Fähigkeit der Empathie auszuprobieren. Ihr nicht durch affektives, sondern durch intentionales Handeln näher zu kommen. Im Grunde spiegelt die Debatte als Sport, eine Spiel- und Lernsituation dar.
    Aber wieso ist das wichtig für die Kritik am scheinbaren Problem der Verbissenheit?
    Weil das Spiel und das Lernen mit Fehlern begleitet werden muss. Beide Tätigkeiten müssen als Versuche, nicht als Paradebeispiele für die eigentliche Realität gelten.
    Und so würde ich dazu kommen, zu behaupten: Nicht der Draw verschafft die Unmöglichkeit der Empathie, sondern das eigene Gewinnstreben.
    Ich würde sagen, dass man den Willen zu einer guten, spaßvollen Debatte (die man vielleicht verlöre) eher betonen muss, als den Anreiz eine Debatte gewinnen zu wollen, um den empathischen, achtungsvollen Umgang miteinander zu bestärken.

    Ich fasse zusammen:
    Die Priorität des Empathie gilt nicht gleichermaßen für die Realität und Simulation. Sie kann nur erlernt und geschätzt werden, indem man sich ihr im Spiel und damit auch im Lernprozess annähert.

  5. Ein sehr guter Kommentar und ein wichtiger Appell an uns alle, unsere Meinungen weiterhin kritisch zu überprüfen. Vielen Dank, wegen solcher Beiträge ist die Achte Minute so unersetzlich.

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