Zur Notwendigkeit absoluter Objektivität von Jurierungen

Datum: 19. September 2018
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

BP-Jurierungen – dass es dabei um mehr als nur „Überzeugen“ geht und deshalb eine absolute Objektivität in der Jurierung erforderlich ist, erklärt diese Woche Anton Leicht.

Je mehr sich Debatten aus dem Sumpf konkurrierender Analysearbeit abheben, desto mehr entsteht die Notwendigkeit einer klaren Grundlage für die Abwägung verschiedener Prinzipien gegeneinander. Der Frage, welche Art von Einfluss Intuitionen und Meinungen auf die Ergebnisermittlung von Debatten und die Bewertung von Argumenten haben sollen, stellt sich insbesondere im BP, dessen signifikant komparativere Natur ein einfaches „fand ich beides gut gemacht“ nicht zufriedenstellend erlauben kann. In der Vergangenheit gab es zu ähnlichen Themen schon viel an Diskussionsbedarf und noch viel mehr an Diskussion – Stefan Torges‘ Artikel stellt hier eine schöne Zusammenfassung von tiefergehenden Optionen und Problemstellungen dar.

Dieses Mittwochsfeature soll drei Beiträge zu diesen vergangenen Diskussionen bieten: Es soll zuerst einmal dazu anstoßen, sich erneut über dieses lange noch nicht final besprochene Thema auszutauschen, es soll weiterhin eine mir persönlich sehr wichtige Perspektive auf das Problem eröffnen und es soll darüber hinaus ein Versuch sein, meinen Lösungsansatz mit euch allen zu teilen und ihn auf die Feuerprobe der Kommentarsektion zu stellen. Zuletzt: Aufgrund des vollständig anderen Anspruchs des OPD-Formats an argumentative Leistung und dem Intersubjektivitätsparadigma der OPD bezieht sich dieser Artikel nur auf BP-Debatten.

Neben vielen anderen wünschenswerten Externalitäten hat das Format der BP-Debatte und damit auch das Konzept von Debattierturnieren einen offensichtlich kompetitiven Charakter – Es geht darum, eine Arena für die Konkurrenz von Argumenten zu schaffen und mit der Jury ein Instrument zu schaffen, die Leistungen in dieser Arena zu bewerten. Abstrahiert also handelt es sich bei der BP-Debatte um einen Wettbewerb. Um für einen Wettbewerb jedoch gute Bedingungen herzustellen, müssen die Bewertungsmaßstäbe für Leistungen in ebendiesem möglichst klar und nachvollziehbar sein – Die unbedingte Notwendigkeit dafür ergibt sich aus zwei Gründen.

Anton Leicht - © Matthias Carcasona

Anton Leicht – © Matthias Carcasona

Zuerst einmal liegt es im Interesse der einzelnen Teilnehmenden, dass die Bewertung für sie nachvollziehbar ist, weil so sowohl bessere Möglichkeiten bestehen, die eigene Leistung zu optimieren (Nur wer seine Fehler nachvollziehen kann, kann sie beheben), als auch sehr viel sinnvoller mit Niederlagen interagieren können: Ich bin sicher, dass alle Lesenden mir zustimmen werden, dass ein vierter Platz in einem Raum, den man mit einem Schulterzucken und einem „Ja, war halt nicht so gut“ verlassen hat, erträglicher ist als der maßlose Schock, der eintritt, wenn einem vorher alle beteuert haben, dass einem der erste Platz sicher sei.  Zweitens aber ist es auch für die Integrität des gesamten Turniers wichtig, dass der Wettkampf nachvollziehbar ist. Um eventuellen Titeln und Sieger*innen die Anerkennung zu zollen, die sie sicherlich verdienen, und um Leistungen tatsächlich gebührend zu würdigen, ist es notwendig, dass allgemein nachvollzogen werden kann, wie dieser Sieg überhaupt zustande kam. Mit jedem Mal, das Debattierende hören, dass „BP doch sowieso ein riesiger Zufallsgenerator ist“ und man „eigentlich jeden Call verteidigen kann“, sinkt die allgemeine Anerkennung für Leistungen in diesem Format und die Integrität von Debattierturnieren.

So weit, so offensichtlich. Wo genau liegt das momentane Problem? Ein fehlender Standard für die Anerkennung von Prinzipien und die Bewertung von Beweislasten stellt die Persönlichkeit und Eigenmeinung von Jurierenden in den Vordergrund. (Für diese Entwicklung und die bisherige Relevanz des geradezu unmöglich vagen Wortes „Überzeugen“ in Jurierleitfäden gebe ich übrigens der Intersubjektivität von OPD und deren Einfluss auf BPS die Schuld – Warum das kompetitiv gesehen auf internationaler Ebene ein Desaster ist und strukturell zu schlechterer Performances auch der besten deutschen BP-Teams auf internationaler Ebene führt, ist halbwegs klar, aber das ist ein Mittwochsfeature für einen anderen Tag.)

Je mehr Intuitionspumpen, glaubensbasierte Entscheidungen und Differenzen in „Gefühl“ von Relevanz eine Rolle spielen, desto weniger nachvollziehbar werden die Jurierungen. Je mehr Aussagen wie „Jurorin X mag Argumente über reflexive Implikationen“ oder „Juror Y erkennt nur an, was seinem Faktenwissen entspricht“ sich herumsprechen und auch noch tatsächlich empirisch in Debatten nachvollzogen werden können, desto frustrierender wird die Teilnahme an dem Wettkampf für alle, und desto höher ist die Chance, dass ein Team im Finale steht, weil Juror X das Halbfinale gechairt hat und nicht, weil es zu den Top 4 gehört. Besonders schwerwiegend wird dieses Problem eben in Fällen der Abwägung von Prinzipien – Bringt ein Team in einer bisher utilitaristisch geprägten Debatte ohne viel explizite Abwägung der Prinzipien ein deontologisches Argument vor, so geschieht es heute noch häufig, dass manche Jurierende das deontologische Argument glaubhaft finden, manche eben nicht, und so entscheidet dann letztendlich die Zusammensetzung des Panels. Sofern also nirgendwo die Auffassung vertreten wird, dass es die Aufgabe der Teams sein sollte, sich auf jedes mögliche Jurymitglied individuell einstellen zu können (was ich für absurd halte) ist eine zu hohe Bewertung persönlicher Biases eine eigentlich untragbare Zumutung für ein kompetitives Umfeld.

Es braucht besonders für die alles-oder-nichts-Entscheidung der Gültigkeit von Prinzipien in einer Debatte einen klaren Konsens, auf dem die debattierenden Teams aufbauen können und der Debatte so mit klugen Abwägungen und Interaktion ihren Maßstab oktroyieren: Metrik muss vollständig Teamsache und darf keinesfalls Jurierendensache sein. Dafür aber braucht es eine neue Dynamik, in der Jurys sich gegenseitig auf den Zahn fühlen, in der Chairs kein „habe ich ihnen aber geglaubt“ mehr stehen lassen und Wings sich kein „Freiheit ist aber auch irgendwie wichtig“ mehr gefallen lassen. Besonders Prinzipien, eigentlich aber alle Arten von Intuitionen, sollten für ein kompetitiveres und faireres, insbesondere aber auch angenehmeres BPS viel weniger etwas sein, das entweder akzeptiert oder verworfen wird, und viel mehr etwas, das begründet werden muss. Als Wettkampf um das beste Argument kann das Format aber erst dann geeignet sein, wenn kein arbiträrer Faktor wie der menschliche Charakter eines Jurierenden mehr den Entscheidungsprozess beeinflusst. Sich mit dem richtigen Call zu arrangieren, fällt allen viel leichter, wenn es auch nur einen richtigen Call gibt, und dem steht die fehlende Austauschbarkeit von Jurys stark im Wege.

Damit Redner*innen wissen, wo sie sich verbessern können, damit sie stolzer auf ihre Siege und weniger frustriert mit ihren Niederlagen sein können, und damit Turniere mit größerer Regelmäßigkeit den Sieg des besten Arguments zu ihrem Leitstern machen können, will ich euch alle auffordern, ein klein wenig strenger mit euch selbst zu sein – Ob es die Verwendung der Intuitionspumpe oder eine leise Stimme in uns ist, die entzückt zustimmt, wenn jemand mit der Faust auf den Tisch schlägt und „Freiheit“ ruft: Es gibt viele bequeme Abkürzungen in Debatten, die es sich zu hinterfragen lohnt. Zu welchem Ergebnis mein Hinterfragen gekommen ist, dürfte klar geworden sein; es interessiert mich sehr, zu welchem Resultat ihr nach diesem Artikel gekommen seid, und ich freue mich auf eine lebhafte Diskussion!

Anton Leicht/cal.

Mittwochs-Feature

Anton Leicht debattiert seit 2017 im Debattierclub Münster, den er seit 2018 als Präsident vertritt. Er gewann seitdem die ZEIT DEBATTE Berlin 2017, erreichte im Rahmen der ZEIT DEBATTEN-Serie mehrere Jurierendenbreaks und – Preise und ist DDG-Nachwuchspreisträger 2018.

Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

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18 Kommentare zu “Zur Notwendigkeit absoluter Objektivität von Jurierungen”

  1. Sabine (St. Gallen) sagt:

    Wenn die Kernaussage deines Artikels die ist, die ich herauslese, nämlich „Teams müssen explizit abwägen und Metriken begründen“, dann stimme ich da natürlich zu. Aber ich glaube nicht, dass es viele Debattant*innen gibt, die das nicht tun. Das Problem sind doch eher a) implizite Biases, wann eine Begründung für eine Metrik ausreichend oder stärker ist (was ist hier überhaupt die Metrik?), und im konkreten Kontext des Artikels vor allem b) dass Teams eben sehr selten explizit über Metriken sprechen. Klar, sollten sie tun, aber in 90% der Fälle bleibt Juror*innen nunmal nur ihre eigene Subjektivität übrig, weil sie nicht alle Teams verlieren oder gewinnen lassen können. Wenn dein Ziel mit dem Artikel nicht (nur) ist, mehr Aufmerksamkeit bei Teams und Juror*innen zu schaffen, dann weiß ich ehrlich gesagt nicht, worauf du hinauswillst, und würde mich da über eine Klarstellung oder Ergänzung freuen 🙂

  2. Anton (Münster) sagt:

    Ja, mehr Aufmerksamkeit dafür ist auf jeden Fall mein primäre Ziel, aber ich weiß, dass meine Position dazu keine komplett unkontroverse ist, weswegen ich diesen Artikel weniger als ein PSA als mehr als eine von vielen möglichen Sichtweisen gesehen hatte – Eine Diskussion dazu würde mich auf jeden Fall interessieren, genauso wie es mir am Herzen liegt, dass diesem Thema ein wenig mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Gerade auch, weil ich das Gefühl habe, dass eine „Klar, sollten sie tun, machen sie aber nicht“ – Mentalität relativ prävalent ist, aber vermeidbar ist: Würde man als Juror*in häufiger explizit feedbacken, dass Metriken einfach aufzustellen nicht hinreichend ist, und würden sich in Jurierdiskussionen die Jurierenden weniger häufig Glaubensentscheidungen gegenseitig durchgehen lassen, wäre schon ein wichtiger Schritt getan, um Anreize für Teams zu setzen, die Qualität ihrer Argumentation zu erhöhen (Im Zweifelsfall straft man eine unklare, unkomparative Metrik-Schlammschlacht dann halt auch mal mit sub-75 für alle ab.). Ich glaube, „awareness“ ist allgemein immer ein sehr vages Ziel für einen Artikel, aber in diesem Fall halte ich das tatsächlich für das Klügste – In der Position, hier unilateral irgendeine Regelung oder eine Vorgehensweise vorzuschlagen, sehe ich mich jedenfalls nicht, deswegen bin ich neugierig, was eine Diskussion zu diesem Thema und vielleicht ein erhöhtes Bewusstsein ergeben.

    1. Sabine (St. Gallen) sagt:

      Naja, aber wenn die Teams mir keinen Anhaltspunkt geben, bleibt mir ja als Jurorin nichts anderes übrig, als eine Glaubensentscheidung zu treffen, und dann gewinnt eben die Meinung, die eine Mehrheit im Panel hat. Es ist ja auch immer die Frage, ob man eine Begründung für eine Metrik überzeugend findet. Das ist ja auch nicht objektiv entscheidbar.

  3. Bea (Tübingen) sagt:

    Ehrlich gesagt, ist mir nicht klar, wo in deinem Artikel die Kontroverse liegt. Ich denke, dass sich alle Menschen nachvollziehbare Jurierungen wünschen und dass es weiter einigermaßen Konsens ist, dass es häufig an der Subjektivität in der Jurierung scheitert, aber dass Teams durch ihre Argumentation dazu beitragen dieses System aufrecht zu erhalten (z.B. durch das Fehlen von klar aufgestellten Metriken, aber bestimmt auch anderes).
    Du sprichst am Anfang deines Artikels davon, deinen Lösungsansatz zu teilen. Ich denke, das ist der interessanteste Teil des Artikels und der Teil, der am ehesten zur Diskussion einlädt. Allerdings ist der Lösungsansatz, den ich im Artikel finde, einfach nur „Hinterfragen“. Ich hätte gerne konkretere Ansätze an dieser Stelle. Du sagst bereits, Teams können mit niedrigen Speaks abgestraft werden und dass das Aufstellen Metriken häufiger gefeedbacked werden sollte, das ist sicher hilfreich, aber du sagst ja selbst, dass das Problem eben auch bei den Jurorierenden liegt. Wie stellst du dir also die Jurierdiskussion reell vor um diese absolute Objektivität durchzusetzen? Wie kann man die „bequeme[n] Abkürzungen in Debatten“ vermeiden und was würdest du Jurierenden empfehlen um ihre Intuitionspumpe aus- oder wenigstens runterzuschalten?
    Ich würde mich über konkretere Antworten/Vorschläge freuen, selbst, wenn du dich nicht in der Position siehst, solche Vorgehensweisen zu empfehlen (ich glaube sowieso, dass das nicht stimmt: nur weil du etwas vorschlägst, wird es schließlich nicht sofort umgesetzt) und vielleicht sind die dann kontrovers genug um eine lebhafte Diskussion zu erzeugen 😉

  4. Sven J. (Tübingen) sagt:

    In Antwort auf den Artikel, aber auch auf Bea:
    Ist „absolute Objektivität“ ein wünschenswertes Ziel? Ich glaube da besteht großer Konsens.
    Ist sie ein realistisches Ziel? Ich glaube da gehen die Meinungen schon eher auseinander und beispielsweise ich würde mich anders positionieren:
    Beim Debattieren bewegen wir uns nicht im Raum der Wahrheit, sondern im Raum des Möglichen. Sollte dieses Haus dieses und jenes tun? Ist YX zu begrüßen? Das werde ich auch nach einer Debatte nie WISSEN, sondern kann es nur aufgrund dieser oder jener Argumentation für wahrscheinlicher halten. Und auch für diese Wahrscheinlichkeit in induktiven Argumenten gibt es nicht DEN EINEN für Menschen erfassbaren Wert, sondern das wird jeder anders empfinden (auch wenn die Einschätzungen hoffentlich im ähnlichen Rahmen liegen). In meinen Augen kann selbst das BP-Format diesen Mechanismus nicht durchbrechen. Wie sollte den eine „Formel“ / ein Konsens aussehen, nach der die Juroren objektiv entscheiden könnten, wann sie das deontologische Argument dem utilitaristischen vorziehen? Wie will man den Wert eines Freiheitsarguments objektiv bemessen? Ab einem gewissen Punkt würden mich Regeln für diesen Bereich als Juror einengen, ohne der Komplexität aller Fälle auch nur annhähernd gerecht zu werden.
    Es ist ja nicht so, dass das Debattieren vollständig zur Zufallsangelegenheit mutiert: Wenn ich meinen Job gut mache, werde ich viele Menschen überzeugen ergo viele Panel auf meiner Seite haben. Wenn ich ihn hervorragend mache, werde ich fast alle überzeugen und ergo werden fast alle Panel in meinem Sinne entscheiden. Äquivalent in anderen Sportarten: Wenn ich nur etwas besser spiele als das andere Team, spielt das Glück (Schiedsrichter, Tagesform, Verletzungen) eine größere Rolle als wenn ich haushoch überlegen bin.
    So sehr ich all die Beobachtungen zu frustrierenden Erlebnissen nachvollziehen und teilen kann, so sehr glaube ich auch, dass sie zu einem kleinen Rest unvermeidlich sind. Debattiersport wird – unabhängig vom Format – immer etwas sein, wo man sich Objektivität nur annähern kann. Dass einige der im Artikel skizzierten Punkte auf diesem Weg hilfreich sein können- natürlich.

    1. Anton (Münster) sagt:

      Sowohl als Antwort zu dir als auch zu Bea: Ich freue mich, dass die eigentliche Grundannahme des Artikels so viel Zustimmung bei euch beiden findet und ihr sie als so selbstverständlich voraussetzt. Ich hatte tatsächlich vermutet, dass vor einer Diskussion über Bekämpfungsmöglichkeiten erst einmal die grundsätzliche Frage, ob es so etwas wie einen objektiv richtigen Call geben soll, geklärt werden muss – Ich schreibe dieses Feature als Antwort auf eine etwas aus dem Ruder gelaufene Facebook-Diskussion, in der mehrere meiner Wahrnehmung nach als sehr kompetent und erfahren angesehene Debattierende eine ausdrücklich gegensätzliche These vertraten. Auch im privaten Gespräch habe ich die Erfahrung gemacht, dass das durchaus eine kontroverse These ist („Es gibt Debatten, in denen man jeden einzigen Call perfekt verteidigen kann“). Über den Input der Menschen dieser Meinung würde ich mich hier ebenfalls sehr freuen. Wenn ich hiermit mehr zum Chor predige als gedacht, dann trägt das Feature vielleicht ein wenig mehr Redundanz in sich als erhofft – Mein Aufruf zur gegenseitigen Kontrolle bleibt so oder so, eine ausführliche Antwort mit potenziellen Lösungsansätzen folgt dann vermutlich später.

    2. Sven J. (Tübingen) sagt:

      Ich glaube wir liegen in unseren Prämissen schon etwas auseinander. Selbst die Personen, die du beschreibst, werden ein Grundmaß an Objektivität sicher anerkennen, weil das die Grundlage eines Wettbewerbs ist. Dass ein Juror z.B. nicht völlig unabhängig von der Debatte einfach nach seiner politischen Meinung entscheiden sollte- geschenkt.
      Also reduziert sich die Debatte darauf, welchen Grad an Objektivität man für realistisch hält. Und da würde ich z.B. tatsächlich sagen, dass sich in Debatten verschiedene Calls gut legitimieren lassen, weil es kein realistisches objektives Maß für die Stärke eines Argumentes gibt.

  5. Anton (Münster) sagt:

    Zuerst einmal: Deine Position ist ja auch schon „so objektiv wie möglich“, wenn ich dich richtig verstanden habe; das ist erst einmal sehr verträglich mit dem allgemeinen Anspruch meines Artikels, aber nicht so sehr mit den Meinungen, die mich motiviert haben, ihn zu schreiben.

    Dann sagst du, dass es vielleicht gar nicht wesentlich objektiver geht und Intuitionen etc. bis zu einem gewissen Grad notwendig sind, weil es kein objektives Maß gibt: Der Teil meines Artikels, der mit diesem Bedenken interagiert, ist Folgender: „Dafür aber braucht es eine neue Dynamik, in der Jurys sich gegenseitig auf den Zahn fühlen, in der Chairs kein „habe ich ihnen aber geglaubt“ mehr stehen lassen und Wings sich kein „Freiheit ist aber auch irgendwie wichtig“ mehr gefallen lassen“. Solange Jurierende nicht vollständig ausgeführten Argumenten auch nur Teilcredit geben, je nachdem, wie wichtig sie sie finden, ist weniger Objektivität da als möglich. Die Kernaufforderung, die dieses Problem loswerden würde, wäre zu sagen, dass Argumente, die neue Metriken anlegen oder an Intuitionen appellieren, ohne diese systematisch und interagierend zu begründen, eben nicht mehr (wie heute noch in einigen Fällen) zumindest teilweise honoriert werden, weil sie eine richtige, aber nicht interaktive und klare Richtung verfolgt haben, sondern einfach komplett als außerhalb der Debatte betrachtet werden. Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit auf Basis meiner empirischen Erfahrung sagen, dass es zumindest einige Jurierende gibt, die eine schöne oder „irgendwie wichtige“ Idee zum Teil honorieren und damit einer Art intuitionsbasierter Kaffeesatzleserei platzmachen, die Objektivität erschwert. Damit strenger zu sein ist, was ich für notwendig halte, und das würde den realistischen Grad an Objektivität ja zumindest merkbar erhöhen.

    1. Anton (Münster) sagt:

      Ah, ich bin irgendwie zu dumm, um das richtige „Antworten“ zu finden. Das ist natürlich eine Antwort auf Svens Kommentar 4b.

  6. Philipp S (MS) sagt:

    Kurzer Kommentar ohne Anspruch auf maximale Tiefe, aber als Trigger damit ich mehr Analyse von Anton lesen kann. (Wirr geschrieben wärend ich eigentlich anderes tun sollte, nimm es nicht als Kritik sondern als Wunsch nach mehr!)

    Je länger ich nachdenke umso weniger bin ich mir sicher was ich eigentlich juriere. Eigentlich ist es doch der Vergleich von handwerklicher Leistung. Wer hat alle notwendigen Bestandteile seines Arguments am schönsten Ausgeschnitzt? Es gibt verschiedene Teilbereiche, die von den Teilnehmern unterschiedlich schön bearbeitet wurden. Fehlt ein Teilbereich ist das natürlich schädlich(-er?). Hat er sich von der Aufgabe wegbewegt, so ist das auch negativ. Nutzt er ein völlig anderes Grundmaterial(Holz statt Stein) so muss sich im Werk erkennen lassen warum dies die Handwerklich besser Entscheidung war. Aber gibt es dazuwischen einen Fixen umrechenkurs?

    Und am Ende treffen sich die Juroren und diskutieren, woran sie sich erinnern können. Aber meines Wissens nach gibt es wenige Debatten in denen fertige Werke präsentiert werden. Oftmals bekommt man nur Teilstücke präsentiert. Aber selbst wenn, mir ist leider nicht bekannt und hier fehlt mir die Ausführung, wie wir unterschiedliche Bauteile objektiv vergleichen können. Wenn zweimal etwas „fertig“ geworden ist, dann muss ich die Dinge gesamtheitlich (Summe der Teile Klingt zu objekti) vergleichen, aber wie. Es sollja nicht am subjektiven Schwierigkeitsgrad, der subjektiven Relevanz oder der subjektiven Nachvollziehbarkeit der einzelnen Leistungsschritte abhängen.

    Was mir als juror nicht möglich ist, ist es auf die Ebene der Debatte selbst zu gehen im Sinne von „Du hast mir 1000 Tote gezeigt und du mir nur 1 Toten und 1000 > 1“. Aber nicht alle Debatten handeln in gleichwertigen Produkten. Was ein Menschen sehr unglücklich wird oder zwei mäßig unglück werden. Was wenn die Teams Leben gegen Glück abwägen sollen?

    1. Anton (Münster) sagt:

      Ich glaube, der Werkstoffvergleich ist grundsätzlich schon ein schöner, an dem die Problematik, aber eben auch die möglichen Umgangsweisen klargemacht werden können. Bevor ich mich zu tief in die Metapher reinwühle, muss wahrscheinlich ein wenig Terminologie stehen; Das Kunstwerk an sich ist dann der Case, die Schönheit des Kunstwerks seine mechanistische Sauberkeit und analytische Stärke und der Werkstoff die gewählte Art, dieses Kunstwerk zu präsentieren, sprich: Die Metrik in welcher der Case operiert. (paradoxer Weise passt hier die Sachverstand-Urteilskraft-Differenzierung sogar ein bisschen.).

      [!Disclaimer: Noch nie ein Schnitzmesser in der Hand gehabt.!]

      Offensichtlich werden die meisten Menschen aus Holz schnitzen, und es ist plausibel, warum das ein ganz cleverer Gedanke ist: Das lässt sich wohl relativ fein schnitzen, ist vielseitig etc. (Utilitaristische Argumente?). Das ist unsere Baseline, nicht, weil wir uns in der BPS-Regelkommission darauf geeinigt haben, sondern weil es sehr plausibel ist.

      Die zweite Art von Werkstoff ist dann eine Imitation von Holz: Sagen wir mal, ich bastele etwas aus Seife oder aus Edelsteinen oder was auch immer. Hier konkurrieren die verschiedenen Werkstoffe dann darin, wie sehr sie das gemeinsame Ziel der Schönheit erreichen, operieren also vermutlich noch auf der selben Metrik. Edelsteine mit Schnitzmessern bearbeiten ist vermutlich ein Stück schwieriger, als das gleiche mit Holz zu machen, aber es ist vermutlich plausibiliserbar, warum Edelsteine schöner sind als Holz (glitzern, sind selten, soziokulturelle Bedingungen etc.). Da geht es also um verschieden schwierige Wege zu verschienden Graden von Schönheit, das sind dann pseudoutilitaristische Argumente (Freiheit ist toll, weil freie Menschen glücklich sind.). Die Bewertung dieses Unterschieds als Juror ist relativ einfach, aber doch ein wenig tückisch: Wenn das Edelsteinkunstwerk einfach ein gutes Stück hässlicher ist (weniger schön geschnitten, kantiger, detailärmer), verliert es erst einmal einfach gegen das Holzkunstwerk, egal, ob zwei Menschen in der Jury sagen „Edelsteine finde ich aber intuitiv hübscher als Holz/Ich glaube, das könnte man weniger einfach anzünden“. Wenn, und NUR wenn der Edelsteinmensch seinen Werkstoff so darstellen kann, dass klar wird, warum er Holz überlegen ist (again: Soziokulturelle Umstände, nicht brennbar, kann ich gegen eine Wand werfen, whatever – Wenn du dir das wirklich zuende denken willst, kannst du dir vorstellen, wie der Edelsteinmensch herumgeht und nacheinander jedes Kunstwerk gegen die Wand wirft, und am Ende haben alle eine Delle außer seinem, also ist seins dann das schönste.), darf überhaupt das Material als positiver Faktor berücksichtigt werden: Nicht die Werkstoffpräferenz der Jurierenden, sondern die Werkstoffpräsentation der Debattierenden entscheidet diese Abwägung. Und wenn keine Präsentation für den Werkstoff da ist, dann ist das halt erstmal technisch weniger sauber als Holz und ist raus.

      Die dritte Art des Werkstoffs sind dann tatsächlich prinzipielle Argumente. Die etwas klobige Parallele dafür ist, dass jemand hingeht und einfach einen Menhir meißelt. Damit geht er dann in den Präsentationsraum und sagt: Schön und gut, sind ja alles hübsche Kunstwerke, aber wenn ich meinen Menhir auf dieser Seifenstatue abstelle, dann ist die Statue Matsch und ihr müsst quasi meinen Menhir auszeichnen. Kurzum: Wahre prinzipielle Argumente versuchen gar nicht, sich mit den Anderen um die Schönheit zu streiten, sondern erklären Schönheit einfach solange zum mangelnden Kriterium, bis die anderen Kunstwerke den Hinkelsteintest überstehen. Das funktioniert dann aber nur, wenn die anderen Kunstwerke wirklich komplett vernichtet werden – Mein prinzipielles „Aber Freiheit DARF nicht zurückgestellt werden“ funktioniert nur dann, wenn ich wirklich ohne Zweifel zeigen kann, dass alles andere egal ist. Wenn das auch nur ansatzweise zweifelhaft ist, oder eine der Statuen den Menhir ein bisschen abfangen kann, dann ist das komplett prinzipielle Argument tot, weil der Menhir überhaupt keinen Schönheitswert hat und deswegen diese Abwägung nicht eingehen kann. Hinkelsteine allerdings gibt es im Debattieren eigentlich so gut wie nie (Was für ein absurder Satz), aber wenn es sie gibt, ist die Werkstoffabwägung auch einfach: Was nicht mehr da ist, kann auch nicht schön sein.

      Die bei weitem wichtigste Abwägung ist aber sicherlich die zwischen Kategorie 1 und 2, und das ist im Grunde auch diejenige, die so gut wie alle „prinzipiellen“ Argumente oder Intuitionspumpen begleitet. Die Frage ist im Endeffekt nur, wie gerecht das Prinzip dem utilitaristischen Kalkül wird, und es liegt an den Anführenden des komplexeren Arguments, seine Reichweite aufzuzeigen: Der gegen-die-Wand-werf-Test ist die Einführung einer regelutilitaristischen Perspektive, die Frage, wie wenig brennbar das Kunstwerk ist, ist die Frage, wie haltbar das Argument vor einem Realitycheck ist – Im Grunde ist das das „Beispiel?!“-Reinbrüllen der Schnitzwettbewerbe.

      Aber genau an diesem Vergleich erschließt sich dann ja auch mein Aufruf: Natürlich ist es schwieriger, Stein zu schnitzen, und natürlich finden manche Menschen Stein schöner. Und Stein hat auf einigen Ebenen massive Vorteile (Wie gut sieht es nach dem Feuer aus?) , aber das darf aus Gründen der Fairness niemals der Jury überlassen sein. Der Steinkünstler muss beweisen, dass der Stein nicht brennt, und der Holzkünstler muss eine Chance bekommen, darzulegen, warum das nicht so ist, ansonsten ist die Debatte einfach davon abhängig, welche hypothetischen Brandszenarien die Jurierenden für plausibel oder unplausibel halten und ob sie Stein hübscher finden oder nicht. Die Last für diese Abwägung muss immer in der Debatte liegen, und die Werkstoffdifferenz objektiviert werden, ansonsten ist die Jury nämlich tatsächlich gezwungen, arbiträre Vergleiche zu ziehen: Wenn die Werkstoffabweichung nicht erklärt wird, so wird nur auf dem Feld der jeweiligen technischen Sauberkeit verglichen, und da gewinnt dann vermutlich häufiger das besser formbare Holz.

      Die massive potenzielle Effektivität von prinzipiellen und intuitiven Argumenten darin, alle „kleineren“ Argumente zu überschatten, geht häufig mit der Kehrseite einher, dass ihre Anknüpfung an Debatten schwierig oder zumindest zeitaufwendig ist. Wenn aber diese destruktive Potenz auszunutzen nicht zusätzliche Hürde der Teams ist, gerät man in eine Welt, in der man abhängig von Jurierenden häufig unberechenbar gut oder schlecht abschneidet und nicht mehr das eigene Schicksal in der Debatte in der Hand hält. Deswegen müssen Anknüpfungen und Vergleichsebenen immer Teamsache sein, und wenn die Teams das dann vergessen, hätten sie ja auch bei Holz bleiben können – Bewertet werden sie jedenfalls, als hätten sie das getan.

    2. Karsten (Jena) sagt:

      Hey Anton,
      danke für Deine anschauliche Darstellung.
      Ich glaube, nicht selten schnitzen Teams Statuen aus Holz, verschönern sie umfangreich mit Edelsteinen und reiben sie manchmal noch mit Seife ein.

    3. Sabine (St. Gallen) sagt:

      Was mich an deiner Argumentation hier, Anton, massiv stört, ist, dass du davon ausgehst, dass der Utilitarismus die Ethik ist, die wir alle bevorzugen und bevorzugen sollten. Ich weiß nicht mal, ob es mit Promotion in deontologischer Ethik möglich ist, eine*n „Holz=Utilitarismus ist cool und du musst mir beweisen, dass es das nicht ist“-Juror*in davon abzubringen, alles utilitaristisch zu bewerten. Klar, Utilitarismus ist Erstis recht einfach zu vermitteln, er ist in einer Debatte gut zu erklären und oft stimmt er mit unseren Intuitionen darüber überein, was richtig ist. Die meisten ethischen Fragen werden aber in allen ethischen Richtungen gleich beantwortet, das ist also kein Alleinstellungsmerkmal des Utilitarismus. Ich behaupte, dass die wenigsten „normalen“ Menschen den Utilitarismus zur Bewertung von Handlungen heranziehen. Und ich finde es schade, wenn das Debattieren zur Utilitarismusschlacht wird, weil das die vermeintlich einfachste und vernünftigste Metrik ist. Ein*e Juror*in, der*die verlangt, dass ich Edelsteine, Seife, Hinkelsteine (übrigens auch ein sehr subjektiver Vergleich – ich finde ja, es ist eher der Utilitarismus, der sagt „egal, wie du aussiehst, ich mache dich einfach platt!“) begründen und gar beweisen muss, Holz aber nicht, ist alles andere als objektiv. Er*sie hat eine viel stärkere Meinung dazu, was er*sie hören will und gut findet, als der*die Status-Quo-Juror*in. Er*sie ist durch die „Utilitarismus ist erstmal anzunehmen, bis jemand was anderes beweist“ sehr wenig geneigt, einen anderen als einen vollkommenen Beweis für eine andere Ethik anzunehmen. Und wenn es einen solchen gäbe, gäbe es nur noch eine Schule in der Ethik.

    4. Hannah (Aachen) sagt:

      Mir gefällt diese Kunstwerk-schnitzen-analogie auch sehr gut. Ich denke auch nicht, dass man aus Antons Ausführungen schließen muss, das Utiliitarismus der Goldstandart ist.
      Um innerhalb des Settings zu bleiben, wenn jemand sich überlegt, dass man Seife (wofür auch immer das stehen mag – vllt deontologie) eigentlich ähnlich gut bearbeiten kann wie Holz und damit dann ein schönes, sauberes Kunsterwerk(Argument) macht, dann ist das völlig legitim. Nur sollten Juroren nicht, wenn jemand ein rohes Stück Seife in den Raum wirft, anfangen zu diskutieren („Seife ist ja auch wirklich schwer zu bearbeiten, und allein für die Idee, dass zu benutzen sollte es Kredit geben“). Ich denke, da bemühen sich aber durchaus alle Juroren, das auch entsprechend zu bewerten.

      Was ich viel schwieriger finde: Selbst innerhalb des Utilitarismus gibt es ja verschiedene Utility-Funktionen, bzw oft muss man auf Heuristiken zurückgreifen, weil die eigentliche Utility-funktion (Leid/Glück) zu komplex ist.
      Was ist also, wenn zwei Künstler zwei technisch ähnliche Werke abliefern, aber eines ist eine Blume und das andere ein Baum oder ein Tier oder ein abstraktes Muster (In der Debatte vielleicht: mehr Bildung, weniger Armut, weniger Tote, weniger Kranke, weniger Einsame, bessere Luft oder was auch immer). Wie vergleiche ich das als Juror, wenn es die Teams nicht selber machen?
      Und angenommen, ich hätte eine objektive Anordnung dieser Gruppen (z.B. Blumen sind besser als Tiere): Was passiert, wenn ich ein perfekt geschnitztes Tier und eine gerade so erkennbare Blume habe? Was, wenn der Unterschied nur marginal ist?
      Meiner Erfahrung nach bemühen sich die Panels innerhalb von 15Min (was mEn verdammt kurz sein kann) alle diese Fragen zu stellen und so gerecht wie möglich der Debatte entsprechend zu beantworten, aber häufig ist die Antwort eben nicht eindeutig und so ergeben sich dann eben Antworten, die vom Panel abhängen.

    5. Anton (Münster) sagt:

      Zu Sabines Vorwurf, dass der Holzutilitarismus es sich zu einfach macht: Mein Argument ist ja im Grunde, dass weder Holz noch Utilitarismus a priori der beste Werkstoff ist („Das ist unsere Baseline, nicht, weil wir uns in der BPS-Regelkommission darauf geeinigt haben, sondern weil es sehr plausibel ist.“). Er wird nicht verwendet, weil wir uns darauf geeinigt haben, sondern weil er sich eben als geeignet herausstellt. Wenn plötzlich alle anfangen würden, aus Seife zu schnitzen, dann wäre das ja die neue „Baseline“. Es ist nicht so, dass der Utilitarismus einfach so „gilt“, seine Wirkungsburden ist einfach sehr einfach zu überspringen, deswegen ist er ein de-facto-gold-standard. Es ist kein „Utilitarismus gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist“, es ist ein „Jeder muss seine Metrik begründen, und weil das mit Utilitarismus am einfachsten ist, gibt es den halt am häufigsten.“ Hier gilt ein bisschen ein „Don’t shoot the messenger“ – Da kann ich ja auch nichts für, das ist ja auch nicht meine Theorie, das ist einfach wie es funktioniert. Klar ist Utilitarismus in den Augen vieler eine Ethik für Schweine, aber in Debatten wird halt verständliche, schnelle und klare Argumentation belohnt, und das tut der Utilitarismus eben gut.

      Kant-vs-Nietzsche würde ich auch sehr gerne mal spielen, aber das BPS-Format belohnt in seiner jetzigen Form einfach kaum solche wenig komparativen Auseinandersetzungen, die sich auf verschiedene Weltanschauungen zurückgeführt werden müssen (Bis ich auch nur erklärt habe, was Kant mit Vernunft meint, sind meine 14 Minuten schon um.). Das kann man schon machen, aber es ist schwierig zu reden, es ist schwierig zu jurieren und es ist vermutlich auch nicht besonders angenehm für alle anderen Teams. Was ich hier zu Utilitarismus in Debatten schreibe, ist ja nur eine a-posteriori-Analyse des Standards. Holz muss auch bewiesen werden, ist aber einfacher zu beweisen. Ob wir uns eine Welt mit weniger Utilitarismus wünschen oder nicht, ist auch eine interessante Frage: Mein Text zielt ja gar nicht darauf ab, dass es mehr Utilitarismus geben soll, sondern dass Prinzipien anders (kritischer, aber auch potenziell weniger abgeneigt) bewertet werden sollen, damit prinzipielle Argumente vom quasi-cointoss zu einer legitimen Strategie mit absehbarer Erfolgschance werden.

      Der Hinkelsteinvergleich zielt nicht so sehr auf Ästhetik von Argumenten, sondern auf Komparativität – Verschiedene utilitaristische Argumente sind einfacher abzuwägen als ein Prinzip gegen ein utilitaristisches Argument, deswegen macht der Hinkelstein „alles platt“, weil er sich dem Vergleich entzieht, während der Utilitarismus nicht den Anspruch stellt, dass das andere Argument ungültig ist, sondern nur, dass es weniger schwer wiegt.

      Zu der Frage zu verschiedenen utility-Definitionen von Hannah: Ja, genau das ist das, was ich meine: Soweit es irgendwie möglich ist, sollten Teams erklären, warum Blumen schöner sind als Tiere. Exakt das soll eben keine Jurierendenpräferenz, sondern Burden der Teams sein. Da ist keins von beiden die Baseline, sondern es gilt, im Vergleich der Beiden sorgfältig komparativ zu arbeiten. Wenn die Teams diese Aufgabe verfehlen, bleibt nur noch, die technische Qualität zu begutachten – Hat die Blume vielleicht eine Macke, fehlt dem Reh vielleicht ein halbes Geweih? Eine Notlösung, zugegebenermaßen, aber an sich ist es Aufgabe der Teams, den Komparativ zu erklären. Wenn sie es nicht tun, werden die Argumente halt ihrer individuellen Qualität nach sortiert, aber eben nicht auf Basis eines subjektiven Rankings der Räume, in denen sie agieren.

  7. Andreas Lazar sagt:

    Debattieren ist ein Spiel mit Sprache und daher fundamental eher Eiskunstlauf als Eisschnelllauf, also ein Sport, der so objektiv wie möglich sein sollte, um fair zu sein. Aber nicht objektiver als nötig, um seine Schönheit und Inspiration nicht zu zerstören.

    Teams sollten viel metrisieren und begründen und Jurierende ihre Vorannahmen ablegen und sich gegenseitig kontrollieren, ja. Aber Debatten sollten nicht entweder zu Metaauseinandersetzungen über Metriken degenerieren, weil diese meist tödlich langweilig und esoterisch sind, oder nur auf einer scheinbar klaren (utilitaristischen) Standardmetrik basieren, weil das komplexe Diskurse zu sehr vereinfacht und damit weniger lehrreich macht als möglich, auch nicht letztbegründeter ist als andere Prinzipien und in den Köpfen vieler Debattierender ähnlich Schlimmes anstellt wie der Marxismus in den Köpfen früherer Studierender. Präferenzutilitarismus (o.ä.) ist kein vollständiger Schlüssel zum Verständnis der Welt. Diese ist vielseitig und basiert auf vielen, manchmal widersprüchlichen Prinzipien, Fakten und Unbekannten, die das Debattieren auch abbilden sollte, um an die Welt gebunden bleiben und wieder in sie hineinwirken zu können. Jurierende sollten anhand der Arbeit der Teams und klarer Kriterien abwägen, welche Sichtweise sie in einer Debatte überzeugt hat, aber ein subjektives Element verbleibt notwendigerweise. Aber das ist auch das Element, in dem das Spiel mit Sprache über sauberes Handwerk hinausgeht und zu Kunst wird. Und das ist gut so.

  8. Anton (Münster) sagt:

    An und für sich stimme ich dir vollkommen zu. Ich weiß auch nicht genau, warum mein Text so sehr als glühendes Plädoyer für den Utilitarismus gelesen wird (Dazu vielleicht meine Antwort auf Sabine). Mich würde es auch traurig machen, gar keine prinzipiellen Argumente mehr zu sehen, und ich finde den Großteil von dem, was du dazu sagst, sehr sinnvoll. Einzig und allein der Weg, wie prinzipielle Argumente und vielschichtige Intuitionen in Debatten eingebracht werden, könnte ein fairerer und besserer werden. Ich glaube nicht, dass viel Schönheit verloren geht (Im Gegenteil, mein Philosophenherz würde sogar höher schlagen), wenn sich Teams wirklich einmal damit auseinandersetzen, wo denn überhaupt das Fundament für ihre Moralurteile liegt, wenn in Debatten wirklich hinterfragt wird, was wir richtig und falsch nennen dürfen und sich auch mal jemand hinstellt und sagt „Schluss jetzt mit dem ganzen hedonistischen Kalkül, so einfach ist das Leben nicht.“ Aber das wird einfacher, angenehmer, fairer und besser, wenn dieses Argument dann funktioniert, wenn es gut gemacht ist, und nicht mehr dann funktioniert, wenn es mit der Weltanschauung der Jurierenden korrespondiert. In einer solchen Welt gäbe es sicherlich nicht weniger gute prinzipielle Argumente, aber vielleicht ein wenig weniger mittelmäßige und schlechte Intuitionspumpen, die Debatten chaotisch und unschön machen.

    Letzten Endes lebt eine BP-Debatte doch auch davon, brillante argumentative Wendungen und Ideen anzuerkennen und die vier Teams tatsächlich eng verwoben und anspruchsvoll miteinander interagieren zu sehen. Wenn sie sich 2 von 14 Minuten pro Team darüber streiten, was überhaupt „richtig“ heißt, bevor sie erklären, warum was sie sagen richtig ist, dann gewinnen wir viel Tiefe, Fairness, und zumindest nach dem, was ich in BP schätze, auch Ästhetik.

  9. Martin (Kaiserslautern) sagt:

    Vielleicht noch einmal zu deiner grundsätzlichen Frage, ob es einen objektiv richtigen Call geben muß, damit Debattieren überhaupt ein echter Sport sein kann. Als Motivation führst du dabei die Umsetzbarkeit eines systematischen Trainings ins Feld. Es klingt ein wenig so, als sei ein deterministischer Call eine notwendige Vorraussetzung für die Umsetzbarkeit systematischen Trainings.

    Dies muß aber nicht unbedingt so sein. Man kann die Debatte durchaus als stochastischen Prozeß begreifen und die Aufgabe guter Teams so auffassen, ihre Reden auf maximale Erfolgswahrscheinlichkeit zu optimieren. Also den Zufallszahlengenerator Jury so zu beeinflussen, daß die Wahrscheinlichkeit (aber nicht die Sicherheit) zu gewinnen größer ist als zu verlieren, z.B. indem man versucht möglichst viele Bedürfnisse gleichzeitig abzudecken. Sprich die Holzbüste mit Augen aus Edelsteinen und einer hübschen Feder hinter dem Ohr. Da ist dann für (fast) jeden Juror etwas dabei.

    Der Vergleich mit einem Pokerspiel verdeutlicht es vielleicht ganz gut. Obwohl es das Glückselement der gezogenen Karten gibt, kann ein guter Spieler über mehrere Runden hinweg Vorteile gegenüber einem schlechten Spieler herausarbeiten, indem er das Potential seiner Karten voll ausreizt.

    Für die Vorrunden kann eine Jurierung als stochastischer Prozeß durchaus auch hinreichend befriedigende Ergebnisse liefern, denke ich. Für die K.O. Runden wird’s dann natürlich emotional deutlich schwerer zu ertragen.

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