Keynote für den 3. Jurier-Think-Tank in Hamburg

Datum: Mar 22nd, 2017
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Category: Jurier-Think Tank, Jurieren, Mittwochs-Feature

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4 Kommentare zu “Keynote für den 3. Jurier-Think-Tank in Hamburg”

  1. Jonathan Scholbach says:

    Das Paper ist sehr lesenswert. Am besten hat mir der Abschnitt gefallen, in dem du logisch konzise begründest, dass es für die Wahrheitsfindung egal ist, ob man eine zugeloste Position vertritt. Nebenbei bemerkt glaube ich, dass die Beobachtung, Philosophen stünden dem Debattieren skeptisch gegenüber, einem Bias aufsitzt. Es hängt sicherlich sehr von der jeweiligen erkenntnistheoretischen und ethischen Position ab. Ich habe mal etwas länger mit einem Ästhetik-Prof über das Debattieren geredet – er war der Auffassung, dass im Debattieren konsequenterweise auch die Kleidung (!) mit bewertet werden müsste, da sie eine rhetorische Wirkung hat.
    Aber das nur nebenbei, nun zum Eigentlichen:

    Ich stimme in fast Allem überein, aber in einer Sache bin ich anderer Meinung: Ich meine, dass wir in einer Situation, in der Team A von falschen Prämissen ausgeht, deren Falschheit einem unbedarften Publikum nicht auffällt, und Team B von wahren Prämissen ausgeht, Team A nicht gewinnen soll, auch wenn A besser, d.h. detaillierter, plausibler, etc. argumentiert hat. Denn: ein lügendes oder unwissentlich falsch liegendes Team A bringt sein gegnerisches Team in ein schweres Fahrwasser und verschlechtert das Niveau der Debatte. Die Gültigkeit von (empirischen) Aussagen lässt sich oft nicht zwingend aus anderen (empirischen) Tatsachen folgern – deswegen brauchen wir ja empirische Wissenschaften, um die Welt zu erkennen. Nun muss B sehr viel strategische Überlegung aufwenden, wie es mit der falschen, aber einem unbedarften Publikum glaubwürdigen Tatsachenbehauptung umgehen soll. Es muss ggf. auch seine eigene Strategie komplett ändern, weil die Debatte ganz anders werden kann, wenn auch nur eine bestimmte falsche Tatsache als wahr gilt. Es sollte B in dieser Situation meiner Meinung nach einfach genügen, zu sagen, dass die entsprechende Faktenbehauptung von A schlicht falsch ist, damit es seine gültigen Argumente vorbringen kann, statt sich an einer falschen Behauptung die Zähne auszubeißen.
    Schon oft habe ich diese Situation aus Perspektive des Teams B erlebt. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Debatte zum Thema “Brauchen wir eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik?” (übrigens bereits im Jahr 2010, hier waren die CAs mal wieder vorausschauender als die Bundesregierung), in der das gegnerische Team behauptete, jeder Mensch könne in die Hauptstadt seines Landes fahren, könne dort in der deutschen Botschaft Asyl beantragen und würde im Fall der Anerkennung nach Deutschland geflogen. (Die Jury schenkte dieser Behauptung leider Glauben.) Wie soll man die Falschheit dieser Aussage plausibilisieren? Es handelt sich um eine kontingente gesetzliche Regelung, die nicht aus anderen Fakten logisch zu schlussfolgern ist. Das ist nur ein Beispiel; die Betrachtung weiterer Beispiele zeigt, dass es oft nicht möglich ist, bestimmte falsche Tatsachenbehauptungen vor dem Horizont des angenommenen Publikums zu entkräften.

    In solche Situationen muss das Team das die Fakten vertritt, Recht bekommen. Auch schon, damit das Hacken der Regeln erschwert wird. Andernfalls würde nämlich das Finden falscher, aber plausibler und günstiger Alternativer Fakten belohnt werden. Wenn man damit ab uns zu mal auf die Nase fällt, weil jeman in der Jury sitzt, der sich auskennt, gibt es einen Anreiz, sich besser zu informieren und auf falsche oder ungewisse Behauptungen zu verzichten.

  2. Alex L. (D/MZ/DD) says:

    Ein wirklich hochinteressantes Paper, das allen Juroren ans Herz gelegt werden sollte! Insbesondere die Herausarbeitungen, dass es uns eher um saubere Schlussfolgerungen als um die empirische Faktenlage geht, halte ich für elementar – sonst würden wir ja Forensic Debate betreiben. Daher ist es richtig und wichtig, dass du dies noch einmal in dieser Deutlichkeit herausgearbeitet hast.

    Ich teile daher auch anders als Jonathan deine Position, dass im Zweifelsfall lieber das Team, das auf faktisch falschen Prämissen aufbaut, gegenüber dem mit den faktisch richtigen Prämissen gewinnen sollte, sofern das erstere Team eine bessere Leistung bei den Schlussfolgerungen und der Abwägung der beiden Seiten gezeigt hat (auch wenn ich für OPD einschränken würde, dass sich falsche Prämissen dennoch bei den Einzelreden im Sachverstand und im Team bei der Urteilskraft niederschlagen müssen – aber sie sollten nicht ausreichen, um alle anderen Leistungen eines Teams zu entwerten).

    Ich habe außerdem noch eine Anmerkung zum moralischen Objektivismus: Ich glaube, dass die implizite Annahme der Existenz eines zumindest subjektiven moralischen Objektivismus’ tatsächlich einer der Hauptgründe ist, warum Debattanten – auch außerhalb der Gruppe der Philosophen – mit einem gewissen Unverständnis oder sogar Misstrauen begegnet wird. Aussagen wie “Oh Gott, dann müsste ich ja für/gegen X argumentieren!” oder “Aber dann betätigt man sich doch als geistiger Brandstifter!” sind mir schon mehr als einmal begegnet. Dahinter verbirgt sich die implizite Annahme, dass bestimmte moralische Streitfragen bereits so offensichtlich entschieden sind, dass schon alleine das Aussprechen einer anderen Schlussfolgerung unmoralisch wäre. Die Folge dieses leider sehr verbreiteten Widerwillen, den eigenen moralischen Kompass immer wieder neu zu eichen, zeigt sich dann in kaum erklärbaren Paradoxien – wie z.B. der Befürwortung von Abtreibung (weil ein Fötus im Frühstadium noch kein Bewusstsein hat) bei gleichzeitiger Ablehnung von Stammzellenforschung (weil eine befruchtete Eizelle bereits potenzielles Leben ist). Eventuell löst Debattieren daher einfach ein Unwohlsein aus, weil es die fehlende Kohärenz in der eigenen Argumentation nur zu deutlich hervorhebt und den Finger in die Wunde legt. Zugegebenermaßen wird dies bei Philosophen natürlich nicht zutreffen, aber die mangelnde Bereitschaft in der Gesellschaft, die einmal getroffenen Schlussfolgerungen zu hinterfragen, ist schon bemerkenswert.

    Schlussendlich noch ein Bemerkung zum oftmals verkannten Charakter der Debatte als Spiel. Auch diese Beschreibung der Deabtte halte ich für sehr bemerkenswert und zutreffend. Aber vielleicht liegt es auch an uns, dass wir diesen Charakter nicht genug betonen? Wir begnügen uns in Finalveranstaltungen normalerweise mit dem simplen Hinweis darauf, dass die Redner nicht zwangsläufig ihre eigene Meinung vertreten – aber verstärkt das nicht eventuell sogar den Verdacht der Sophisterei? Wie wäre es daher mit einem neuen, zusätzlichen Disclaimer: “Bitte beachten Sie, dass am Ende dieser Debatte ein Team zum Sieger gekürt werden wird. Dies heißt aber keineswegs, dass die Streitfrage damit ein für allemal abschließend beantwortet, die Sieger im Recht und die Verlierer im Unrecht sind! Vielmehr bedeutet es, dass ein Team im Rahmen der gegebenen Regeln seine Aufgaben besser gelöst hat als die anderen. Mit anderen Teams, einem anderen Thema oder auch nur zwei Stunden Schlaf mehr für die Beteiligten könnte das Ergebnis auch ganz anders aussehen. Betrachten Sie daher das heutige Finale nicht als die ultimative Beantwortung unserer Streitfrage, sondern als Einladung, selber über die Debatte nachzudenken: Welche Argumente haben Sie überzeugt? Welche nicht? Wo hätten Sie am liebsten widersprochen und warum? Das sind die Fragen, von denen wir uns wünschen, dass sie diese aus dem heutigen Finale mitnehmen – für die Debatte nach der Debatte!”

  3. Thomas Wach (Halle) says:

    @Alex
    Zwei Fragen:
    (1) Nehmen wir mal an, Team A baut seine Argumentation auf der Prämisse auf, Frauen als Gruppe seien eine homogene Gruppe und daher mobilisierbar für diese oder jene doch gute Aktion.
    Ist solch eine Darstellung für dich einfach nur Abstraktion/Reduktionismus oder die Verwendung einer falschen “empirischen” Faktenlage?
    Wenn Team B angesichts dieser, ich nenne es mal, realitätsfremden Prämissen sich die Haare rauft und diesen Punkt angreift und platt macht, aber darauf auch das Gros ihrer Zeit verwendet, wer gewinnt bei Dir?

    (2) Nehmen wir mal an, Team A gewinnt bei Dir. Nehmen wir mal an, wir packen überall den Disclsimer hin, dass das ja alles nur ein schönes, verschnörkeltes Spiel von Wortgirlandenflechtern ist?
    Wer sollte dann, aus meiner Sicht völlig zurecht, dann diesen Zeitvertreib von Rhetorik übenden, sozial besser gestellten Studierenden noch Ernst nehmen? Wenn die ach so kkomplizierte Realität keine Rolle spielen muss, dann ist das Hochschuldebattieren dann doch nur noch dazu dar, sich die sozio-ökonomisch bedingten impliziten Vorverständnisse und Weltbilder gegenseitig zu bestätigen, nur halt noch verschnörkelter. Und die Hinterfragung der eigenen Meinung, das ganze Gebrabbel von vetschiedenen Perspektiven und die Fiktion, politische Bildung zu betreiben, all das kannst du einpacken. Denn wenn Realität keine Rolle spielt, dann gehst du einen zentralen “bias” nicht mehr an: Nämlich die Frage, wie Welt und Gesellschaft konturiert ist. Dann dürfen alle weiterhin an ihre engen, kleinen reduzierten Versionen glauben. Die Exploration, die Entdeckung neuer Sinnzusammenhänge, die ja eh extrem unwahrscheinlich und anstrengend ist, hat damit keinen Platz mehr im Debattieren. Zurück bleibt nur Ignoranz gegenüber dem, was man nicht kennt und da schlüssige Wortgirlanden zählen, auch nicht kennen muss.
    Zurück bleibt nur (hohle) Rhetorik.

    1. Alex L. (D/MZ/DD) says:

      a) Wenn die Prämisse entscheidend für die Argumentation war, wahrscheinlich Team B, weil Team B sich besser mit der Debatte auseinandergesetzt hat. Wenn die Prämisse nur für einen Nebenaspekt eine Rolle gespielt hat, dann Team A, weil Team B offensichtlich nicht in der Lage ist, die Hauptpunkte der Debatte zu erkennen. Mir geht es nur darum, dass eine Unwahrheit nicht automatisch zu einer Niederlage führen sollte – schon allein, weil ich als Juror aufgrund meines eigenen Wissenstands und Bias nie zweifelsfrei alle Unwahrheiten erkennen könnte.

      b) Was ist Debatte denn bitte sonst wenn kein Spiel? Wie soll in einer Debatte mit starren Regeln und zugelosten Seiten jemals die WAHRHEIT herausdestilliert werden? Debatte kann der Anstoß sein, über ein Problem intensiv nachzudenken, nie aber die Lösung! Darum ist es auch nicht bloß “hohle Rhetorik”. Aber schlussendlich ist jeder Versuch, über eine starre, willkürlich festgelegten Regeln unterworfenen Debatte, eine Streitfrage letztinstanzlich und endgültig zu entscheiden, zum Scheitern verurteilt. Ich halte diese Erhöhung von Debattierturnieren zu etwas anderem als einem bloßen Wettkampf für sehr irritierend – Debattieren bringt viel für die Persönlichkeitsentwicklung, aber es kann keinen Anspruch darauf haben, einem Publikum die Welt zu erklären. Dafür hat sie einfach viel zu viele Mängel wie z.B. die rigide Zeitbeschränkung oder die für eine wirkliche Durchdringung des Themas ungenügende Vorbereitung.

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