„Das Wasser, das wir Atmen“ von Dessislava Kirova

Datum: 3. April 2013
Redakteur:
Kategorie: Menschen, Mittwochs-Feature, VDCH

Der verstorbene US-Amerikanische Autor David Foster Wallace erzählte 2005 vor Studenten folgende Parabel:

 „There are these two young fish swimming along and they happen to meet an older fish swimming the other way, who nods at them and says, “Morning boys, how’s the water?”

And the two young fish swim on for a bit, and then eventually one of them looks over at the other and goes, “What the hell is water?”“

Als politisch interesierte deutsche Debattiergemeinschaft beobachten wir seit einigen Wochen und Monaten gleich zwei Sexismus-Debatten: einerseits die Debatte um den Sexismus in der deutschen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – ausgelöst durch einen Bericht der STERN-Reporterin Laura Himmelreich; andererseits die Debatte um den Sexismus in der europäischen Debattiercommunity – ausgelöst durch einen Bericht der britischen Debattiererin Rebecca Meredith. Beiden war etwas wiederfahren, das sie als sexistisch empfanden. Himmelreich hatte nachts an einer Hotelbar eine doppeldeutige Unterhaltung mit FDP-Politiker Rainer Brüderle; Meredith wurden beleidigende sexistische Kommentare in einem Debattierfinale zugerufen.

Das große Mosaik 

Ich freue mich sehr, dass beide Debatten entfacht sind – auch wenn mir mancher Inhalt nicht so zur Freude gereicht. Meldungen über Gänsehaut erregende Vergewaltigungen aus den zwei größten Demokratien der Welt kommen dazu: In Indien wird eine junge Frau gleich von mehreren Männern vergewaltigt, in den USA vergewaltigen zwei junge Männer ein Mädchen und filmen das Ganze.  Das Mosaik verdichtet sich zu einer neuen und notwendigen Debatte über die Stellung und Gleichheit von Frauen und Mädchen im Hier und Jetzt: in unseren Demokratien, in unseren Debattierclubs, in unseren Köpfen.

Quo vadis, Diskurs? 

Ich freue mich über diese Debatte, weil sie wichtig ist (und überfällig). Und zwar für uns alle. Nichts von dem was ich lese oder höre schockt oder überrascht mich. Denn nichts von dem was ich lese oder höre ist neu für mich. Auch die vielen unterschiedlichen Arten der Reaktionen nicht. Die männlichen und weiblichen Darsteller in diesem Theater schöpfen die ganze Gefühlspalette des #Aufschreis aus: sie sind wütend, verletzt, außer sich, empört, traurig, sie wollen endlich Gerechtigkeit (ja wofür eigentlich?), sie haben Angst um ihre Privilegien (ja welche eigentlich?). Der Ton und die Einstellungen sind konfrontativ und laut. Doch langsam ebbt der Buzz um das Thema ab – sowohl in den deutschen Medien, als auch online in der Debattiercommunity. Dies ist die beste Zeit für eine Art der Reaktion, die bis jetzt weitestgehend gefehlt hat. Es ist das was man braucht wenn der erste Wirbel vorbei ist und man nun ernsthaft in der Frage weiterkommen möchte: Mitgefühl.

David Foster Wallace’s kurze Geschichte ist die Eröffnung einer Rede über Mitgefühl, die er vor Absolventen einer Universität hielt. Was er den jungen Menschen mitgeben wollte ist der Gedanke an diese Empfindung, an diese Einstellung. In diesem Artikel möchte ich es Foster Wallace gleichtun und für mehr Mitgefühl in der Sexismusdebatte plädieren. Wer es ernst meint und weiterkommen möchte, wer eine Lösung für beide Seiten finden möchte kanndies nicht ohne Mitgefühl tun. Was genau meine ich damit?

Mitgefühl ist wenn man versucht das Leid eines anderen Menschen nachzuvollziehen und vielleicht tatsächlich dessen Leid mitzuempfinden, auch wenn es nicht das eigene Leid ist. Und heute ist es vielleicht noch viel schwieriger geworden im Sexismusstreit Mitgefühl für die andere Seite zu empfinden. Denn die Zustände sind einfach nicht mehr so schlimm wie vor 40 oder 100 Jahren. Mein Leid ist nicht mehr so offensichtlich und daher nicht mehr so schrecklich, es rührt nicht mehr so einfach zu Tränen. Mein Ehemann darf mich in der Ehe nicht mehr einfach vergewaltigen oder zusammenschlagen und ungestraft davonkommen. Das Gesetzt erkennt meine Menschenwürde und meine Rechte an und schützt mich vor Gewalt unabhängig von meinem Geschlecht. Und versteht mich nicht falsch – ich bin mehr als froh, dass wir diesen Fortschritt gemacht haben. Auf der anderen Seite haben junge Männer Angst um ihren beruflichen Aufstieg und fühlen sich benachteiligt wenn eine Frau an ihrer statt befördert wird – auch wenn sie die Qualifikationen hat.

Die letzten 20 Prozent

Das Leid, das viele Frauen und Mädchen heute von der Diskriminierung davontragen ist schwieriger zu vermitteln, weil die Diskriminierung und die Verletzung subtiler geworden sind. Wir sind weit gekommen, aber wie bei so vielen Dingen sind die letzten 20 Prozent die schwierigsten, denn hier geht es um Feinstarbeit.

Ein Beispiel. Ich laufe nach Hause, zwei junge Männer stehen vor einem Lokal und grinsen mich an, sie pfeifen und rufen mir „Baby!“ oder sonstwas hinterher. Das passiert mir fast jedes Mal, dabei ist es egal was ich anhabe. Es ist das banalste und wahrscheinlich bestbekannte Beispiel: ist das jetzt überhaupt sexistisch? Ein junger Mann dem ich das erzähle (selbst Debattierer und höchst reflektiert) ist ehrlich verwundert darüber, dass mich so etwas wütend macht. Er sieht das als Kompliment und kann mich einfach nicht verstehen. Ich komme mir blöd vor. Vielleicht überreagiere ich? Jemand weniger nettes würde mir vielleicht sogar folgendes sagen: „Du findest das nur unmöglich weil die Typen bescheuert und nicht dein Typ sind. Wenn jemand twittern würde, dass du gut aussiehst während du in einem Finale redest hättest du bestimmt nichts dagegen. Oder wenn du den Typen süß finden würdest. Man kann es euch Frauen einfach nicht Recht machen. Dabei erwartet ihr, dass wir den ersten Schritt machen. Und der muss natürlich perfekt sein, genauso wie ihr euch das wünschst. Aber wir können doch keine Gedanken lesen um Gotteswillen!“ (geht wütend von der Bühne). Vollidiot, denk ich mir. Aber so werden wir die verbleibenden 20 Prozent niemals lösen.

Im Sexismustheater spielen alle in ihrem Team

Wenn man aber mit etwas Mitgefühl an die ganze Sache herangeht, kann man viel weiter kommen. Mitgefühl bedeutet erst einmal das Gefühl, das der gegenüber hat (und äußert) anzuerkennen – ohne Wenn und Aber, ohne Wertung. Wenn sich jemand schlecht fühlt dann ist es nicht hilfreich ihm als allererstes klar machen zu wollen, dass sein Gefühl a) nicht existiert oder b) gar nicht schlecht ist oder c) er gar kein Grund oder Recht hat sich schlecht zu fühlen oder d) gleich eine Salve mit Gegenargumenten abzufeuern. Im Sexismustheater ist es schwer Mitgefühl zu zeigen, denn wir sind alle durch unser Geschlecht quasi schon in Teams eingeteilt und fühlen uns schnell als „Frau an sich“ oder „Mann an sich“ angegriffen. Wir tun das was wir sonst fast nie zulassen würden: wir lassen uns in Sippenhaft nehmen. Warum muss ich als Frau alle Frauen verteidigen? Warum muss ich mich als Mann für alle Männer angegriffen fühlen? Weil wir im konfrontativen Modus sind und daher oft fast automatisch reagieren. Das kann man nur schwer ablegen und es erfordert Reflektion und zwar abseits der Konfrontation. Laut Foster Wallace ist das unglaublich schwer, denn ich muss mich bewusst dafür entscheiden über den anderen nachzudenken und nicht einfach automatisch reagieren. Ich lese zum Beispiel über junge Männer aus einem DAX-Unternehmen, die Angst um ihre Beförderung haben, weil der Chef nun auf die Frauenquote setzt und bin wütend. Mein erster Gedanke ist tatsächlich „Tja, Pech gehabt!“ Dann denke ich, dass das schon irgendwie nachvollziehbar ist. Aber sofort bin ich wieder in meiner wütenden Rolle: „Tja, das ist vielleicht etwas unfair aber wir Frauen wurden jahrzehntelang diskriminiert und nun muss halt der ein oder andere Mann dran glauben. Und ganz unschuldig sind sie ja auch nicht. Sie hätten sich ja für mehr Gelichbehandlung in der Firma einsetzen können, dann würden Frauen es von alleine schaffen und wir bräuchten keine blöde Frauenquote.“

Was aus mir spricht ist ein ganz schwer zu erklärendes Gefühl, es ist das Gefühl der kollektiven Beraubung aller Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert wurden: man hat uns um unseren Teil gebracht, um unsere Teilhabe und irgendwann muss verdammt nochmal Schluss sein! Und in diesem Moment geschieht etwas ganz Spannendes. Das Mitgefühl kippt. Die Empfindung, die ich beschreibe ist das Mitgefühl für ein historisches Kollektiv von Frauen, ich empfinde ihr Leid so stark, dass ich geblendet bin. Es fällt mir unglaublich schwer die Situation und das Empfinden von Männern heute nachzuvollziehen. Ich bin wütend und radikal wie Malcolm X wenn ich doch eigentlich besonnen sein sollte wie Dr. Martin Luther King. Mitgefühl heißt einerseits die andere Seite zu verstehen, mit ihr zu leiden aber dabei die eigene Position nicht zu vergessen. Denn eine gerechte Lösung, eine gerechte Gesellschaft kann nicht zustande kommen wenn die eine Seite ihre Wünsche komplett außer Acht lässt, weil sie gerade vom Leid der anderen so sehr mitgenommen ist.

Auch ich habe eine Traum

Ich wünsche mir, dass eines Tages mein Geschlecht keine Rolle mehr spielt wie ich als Mensch wahrgenommen werde – weder negativ noch positiv. Ich wünsche mir, dass wir alle neben der theoretischen Gleichstellung vor dem Gesetzt auch im alltäglichen Miteinander gleich behandelt werden, als Menschen. Um das zu erreichen müssen wir hinter unsere Masken hervortreten und versuchen den Anderen zu verstehen und es erfordert große Anstrengung und Mut, weil wir uns bewusst dafür entscheiden müssen. Foster Wallace beendete seine Rede wie folgt:

„It is about simple awareness – awareness of what is so real and essential, so hidden in plain sight all around us, that we have to keep reminding ourselves, over and over: “This is water, this is water.” It is unimaginably hard to do this, to stay conscious and alive, day in and day out.“

Das Wasser, das wir atmen – er nannte es Mitgefühl.

Mittwochs-Feature

Die Autorin: Dessislava Kirova ist Vizeweltmeisterin im studentischen Debattieren. Sie ist Mitglied in der Berlin Debating Union e.V., deren Präsidentin sie von 2011 bis 2012 war und Mitglied im Chefjuroren-Tram bei der kommenden Europameisterschaft im August. An der Universität Potsdam  studiert sie Anglistik/Amerikanistik und Italienische Philologie.

Das Buch: Foster Wallace, David. This Is Water: Some Thoughts, Delivered on a Significant Occasion, about Living a compassionate Life. New York: Little, Brown and Company, 2009. E-Book. Die Rede gibt es auch frei verfügbar als PDF im Netz, z.B. hier.

Das Mittwochs-Feature: jeden Mittwoch ab 9.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Dessislava Kirova/fpu

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6 Kommentare zu “„Das Wasser, das wir Atmen“ von Dessislava Kirova”

  1. Teresa W. (Münster) sagt:

    Danke Dessi, für diesen mitreissenden und erhellenden Beitrag! Ich selbst habe die Rede von Foster Wallace vor längerer Zeit gelesen; wie bei so vielen Dingen ist sie aber wieder in den Hintergrund meines aktiven Gedankenschatzes gerutscht und ich hätte die Verknüpfung, die du vollzogen hast, wohl nicht von selbst gezogen.

    Sehr interessant finde ich deine Beobachtung, die du in Bezug auf dein eigenes Mitgefühl beschreibst, wenn du über das historische Kollektiv von Frauen denkst, die sich nicht mit 20, sondern 100 % Sexismus konfrontiert sahen. Dasselbe Beispiel bringst du, finde ich, schon vorher, wenn du über den reflektierten Debattierer berichtest, der es nicht versteht in ein Kollektiv gesteckt zu werden bzw. reflexartig das Gefühl hat dieses ganze Kollektiv verteidigen zu müssen.

    Ich persönlich empfinde ebenso, dass sich die Fronten in dieser Debatte zunehmend verhärten! Es geht nicht mehr um einzelne Fälle, sondern gleich um das große Ganze. Es findet eine Vermischung der Betroffenengruppe statt, wenn es passt und eine Individualisierung, ebenfalls dann, wenn es passt. Was meine ich damit?

    Ich meine genau den beschriebenen Fall: ein Mann wird in einem Gespräch damit konfrontiert, dass Dessi hinterhergepfiffen wurde als sie an ein Paar Männern vorbeilief und wie sie sich dabei fühlte. Die Reaktion des Mannes bezieht sich sofort auf die Gruppe „Mann“. Während Dessi von einer individuellen Erfahrung sprach. Es wird gar nicht erst versucht sich individuell auf dieses individuelle Beispiel einzulassen. Das Ziel eines solchen Gespräches ist in diesem Moment offensichtlich nicht einen generellen Misstand anzuprangern, sondern von einer ganz spezifischen Situation zu berichten, für die Dessi (in diesem Fall) sich ein wenig mehr Mitgefühl erhofft hätte.

    Auf der anderen Seite fand ich selbst mich schon allzu oft in folgender Situation: bei Diskussionen über Frauen-Quoten andere affirmative action Maßnahmen oder einfach nur einen generellen Missstand wurde vorschnell auf das Individuum abgestellt. „ICH (als reflektierter Debattierer) würde eine gleich qualifizierte Frau auch ohne Quote einem Mann vorziehen. Ich verstehe diese ganze Diskussion nicht! DU hast doch auch keine Probleme dich durchzusetzen, was schert es dich also? Vielleicht sind andere Frauen nicht willensstark genug.“

    Keinesfalls will ich mit diesem Kommentar versuchen zu sagen, dass alle Diskussionen derart ablaufen. Aber ich finde Dessis Appell unterstützenswert: wir sollten alle versuchen uns unserem Gegenüber bewusst mit mehr Mitgefühl zu nähern und und vor allem auch in angemessener Weise auf solche Situationen einlassen; sowohl als Teil eines Kollektivs (denn nicht immer sind wir selbst die Maxime) als auch als Individuum.

  2. Alex L. (DD) sagt:

    Eine kleine Ergänzung zu Teresas Beobachtung, dass sich die Fronten verhärten: Mir erscheint es ein generelles gesellschaftliches Phänomen zu sein, dass sich in vielen Reformprozessen der letzten 40 Jahre derzeit eine Anti-Stimmung einschleicht, die den großen Durchbruch verhindert. Exemplarisch sei dabei auf die Neger-Diskussion verwiesen oder die Frage, ob Juden Augstein einen Antisemiten nennen dürfen oder nicht; in beiden Fällen wirkte es auf mich, als ob das treibende Element ein Gefühl à la „Wir haben uns doch jetzt wirklich immer gefügt, wenn ihr (d.h. Schwarze, Juden etc.) uns gesagt habt, wir sollen das und das nicht sagen. Kann denn jetzt nicht mal Schluss sein mit dieser Schere im Kopf?“ war. Unabhängig von der fehlenden Reflexion, dass es weniger um die Form als um den transportierten Inhalt geht, zeigt eine solche Einstellung meiner Meinung nach eine gewisse Müdigkeit, ein Wunsch danach, sich endlich einmal gehen lassen zu dürfen.

    Um damit den Bogen wieder zurück zur Sexismusdebatte zu schlagen: Hier scheint bei vielen Männern inzwischen ebenfalls ein Wunsch nach der abschließenden Generalabsolution vorzuherrschen. Wir fordern von euch weder, dass die drei K euer Lebensinhalt sein sollen, noch sprechen wir euch ab, dass ihr unser Boss sein könnt – dürfen wir dann nicht wenigstens eine zweideutige Bemerkung nach ein, zwei Bieren machen, ohne dass wir uns rechtfertigen müssen?

    Wäre dieses Phänomen nur bei Männern anzutreffen, wäre das Problem wahrscheinlich deutlich einfacher zu handhaben. Aber es hilft eben nicht, wenn es auch Frauen gibt, die das Thema Gleichberechtigung scheinbar abhaken wollen, mehr oder weniger aus der Umkehrung des oberen Satzes: Ich gehe meinen eigenen Weg und kann alles erreichen, wenn ich es nur wirklich möchte – kann ich dann nicht auf einen Mann warten, zu dem ich aufschauen kann und bei dem ich mich geborgen fühle, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen?

    Es ist daher immer wieder wichtig, uns daran zu erinnern, dass wir eben noch lange nicht in der perfekten Gesellschaft leben, in der es keinerlei Diskriminierung mehr gibt. Und vielleicht ist es sogar so, dass wir einsehen müssen, dass es so etwas wie perfekte Gesellschaft gar nicht gibt. Die Hauptsache ist jedoch, dass wir nie vergessen, dass gesellschaftliches Miteinander harte Arbeit ist und von uns verlangt, dass wir uns ständig hinterfragen.

    Aus diesem Grunde: Danke, Dessi, für diesen Appell für mehr Mitgefühl!

  3. Andrea G. (Mainz) sagt:

    Liebe Dessi,

    vielen, vielen Dank für diesen Beitrag. Irgendwie ist es ironisch, dass er hier auf dieser Seite über das Debattieren erscheint, während er mehr oder weniger das Gegenteil der Grundhaltung des Debattierens propagiert – das aufeinander Zugehen. Und auch wenn ich das nicht über viele Themengebiete sagen kann, so doch über dieses: Hier wird zu sehr debattiert. Debattieren ist hier in der negativen Hinsicht zu verstehen: der Verhärtung von Fronten, dem Willen, gegen alles ein passendes Gegenargument zu finden, auf jeden Fall Recht zu behalten. Oft wird das Debattieren als unverzichtbare Vorstufe zu einer begründeten Entscheidung beworben; dass jedoch in der Realität nichts schwarz und weiß ist und deswegen eine Debatte letztendlich nichts bedeutet, wenn man die Argumente der anderen Seite danach nicht ernsthaft in Betracht zieht, wird oft vergessen. Debattieren ist Teil eines Diskurses – kein Selbstzweck, und das ist eine Verantwortung derer sich Debattierer (oder Debattanten )bewusst sein müssen. Dementsprechend finde ich es auf gewisse Weise sehr passend, dass dies ein Kernpunkt des Artikels ist.

    Mitgefühl ist in einer Gesellschaft, in der es nicht systematisch implementiert ist, ein objektiver Nachteil. Wer mitfühlt, macht den ersten Schritt dazu, für andere Kriterien auf die Maximierung seines persönlichen Nutzens zu verzichten (dies bezieht sich nur auf objektive Kriterien; selbstverständlich kann der subjektive Nutzen groß sein). Zudem macht sich der, der „zuerst mitfühlt“ angreifbar, denn er macht im Gespräch mit einem anderen eine Konzession, auf die dieser nicht einzugehen braucht – er gibt ein Stück seines Bodens weg. Jeder von uns, der schon mal den Streit mit einer Bekanntschaft entschärfen wollte, indem er am Anfang sagte „Ich gebe zu, ich habe da einen Fehler gemacht“ und dem geantwortet wurde „Na klar hast du das! Und da, da und da auch noch!“ wird wissen, dass das aufeinander Zugehen auf Dauer nur dann funktioniert, wenn beide den Willen dazu haben. Meiner Meinung nach läuft genau das zur Zeit im Themenbereich Gender völlig falsch: Fast jedes Zugeständnis wird sofort zur Waffe für die andere Seite – vielleicht nicht direkt gegen die konkrete Person, die jetzt als die rühmliche und glänzende Ausnahme gefeiert wird, weil sie der eigenen Position einen Schritt weit zugestimmt hat, aber gegen andere Angehörige dieser Gruppe und damit auch wieder gegen die Person selber, die durch das bestärkte Stereotyp „Siehste! Frauen/Männer sind so“ indirekt wieder in Sippenhaft genommen wird. Viele von uns scheinen in dieser Thematik eine unerklärliche Angst zu haben, mit dem Versuch zu verstehen sofort all ihren gewonnenen Boden zu verlieren – ich nehme mich davon nicht aus.

    Ein Beispiel: Im Laufe der angestoßenen Sexismus-Debatte – die ich als wichtig empfand, unabhängig davon, wie ich zu ihrem Auslöser stehe – wurde von vielen Männern darauf hingewiesen, dass das Flirtverhalten von Frauen oft widersprüchlich und uneinheitlich sei und es von Männern doch erwartet würde, hartnäckig zu sein. Auch wenn ich der Meinung bin, dass es auch unter diesen Umständen durchaus möglich ist, Belästigung von einem Flirt zu unterscheiden, bin ich doch jederzeit bereit, diesen Punkt zuzugestehen und darüber zu diskutieren. Aber wie soll ich das tun, wenn jede Äußerung meinerseits nur als Bestärkung der eigenen Seite empfunden und der Rest überlesen wird? Was kann ich dann tun, damit ein Willen zur Verständigung nicht gegen mich verwendet wird? Wir stellen uns diese Frage – ich glaube berechtigterweise, denn leider ist in dieser Debatte so gut wie niemand von Haus aus Vermittler – der überwiegende Anteil ordnet sich ja einer der Betroffenengruppen zu.

    Wie löst man dieses Gefangenendilemma? Kooperation setzt Vertrauen voraus. Das aufzubringen ist eine Anstrengung, die nicht jeder auf sich nehmen möchte (ob dies eine sittliche Pflicht ist, überlasse ich den Philosophen). Wozu wir jedoch verpflichtet sind, ist, den Vertrauensvorschuss zu achten, den wir von anderen bekommen. Wenn jemand signalisiert, dass er bereit ist, zu reden und zuzuhören, dann sollten wir dasselbe tun – und nicht zuallererst versuchen, unser Revier zu verteidigen.

    Entschuldigung für die Länge dieses Beitrags.

    P.S.: An den Herrn, der im ZEIT-Online-Forum im Rahmen der Sexismusdebatte schrieb, er wechsle die Straßenseite, wenn er nachts in einer unbelebten Gegend zufällig hinter einer Frau läuft, um ihr keine Angst zu machen: Danke.

  4. Daniil sagt:

    Danke für die bisherigen Beiträge, die ich allesamt sehr erfrischend bereichernd fand. Ich empfinde es ja persönlich immer als besonders inspirierend, wenn Debattieren was mit der realen Welt zu tun hat. Und ich habe eine Frage. Was sagt ihr dazu:

    http://www.spiegel.de/politik/ausland/sexismus-debatte-obama-entschuldigt-sich-fuer-kompliment-a-892859.html

    http://www.slate.com/blogs/xx_factor/2013/04/05/why_obama_s_compliments_to_kamala_harris_aren_t_harmless_but_part_of_a_larger.html

  5. Jonathan Scholbach sagt:

    @ Daniil: Ich finde, dass Obama einen Fehler gemacht hat. In einem professionellen Kontext das Aussehen einer Person zu bewerten, erzeugt beim Publikum die Erwartung, dass diese Dinge irgendwie zusammengehören (weil diese Information sonst irrelevant wäre). Bei einem Mann wäre Obama niemals auf die Idee gekommen, das zu sagen. Ob man das als Sexismus bezeichnet, ist wieder mal eher eine Frage der Begrifflichkeit. Meiner Erfahrung nach ist Sexismus ein Reizwort und wird daher von vielen abgelehnt, wenn Vorfälle diskutiert werden, die man nicht so schlimm findet, oder als „Ausrutscher“ etc. entschuldigen möchte. Will man begrifflich klar bleiben, sollte man sich m.E. daran halten, als Sexismus alles zu bezeichnen, was eine Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts ist, also auch diesen Vorfall. Ich nehme dann gern in Kauf, dass auch eine monosexuelle Präferenz von Sexualpartnern oder Brustkrebsvorsorge als sexistisch zu bezeichnen ist. Der Begriff ist dann erstmal analytisch, und nicht mehr rein normativ – es sei denn, man lehnt auch spezielle Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen allein für Frauen ab, was ich aber für übertrieben halte.
    Aber nagut, das ist eine akademische Diskussion.

    Ich kann schon glauben, dass es von Obama „nicht böse gemeint“ war, aber dennoch sollte man das nicht machen. Dieser Vorfall ist in meinen Augen auch ein gutes Beispiel für das Frauenquoten-Argument: Auch (heterosexuelle) Männer, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, verhalten sich in verantwortlichen Positionen Frauen gegenüber anders, als (heterosexuelle) Frauen das tun, weil sie sie als potentielle Sexualpartnerinnen wahrnehmen. Auch ein gutwilliger Mann kann also die Perspektive einer Frau i.d.R. nicht vollständig ersetzen, wenn es um Gleichberechtigungsfragen geht. (Umgekehrt gilt das natürlich genauso.)

  6. Alex L. (DD) sagt:

    @Daniil:

    In Ergänzung zu Jonathan, der es besser auf den Punkt gebracht hat, als ich es könnte, möchte ich noch ergänzend auf folgenden Aspekt unserer derzeitigen Gesellschaft hinweisen, der mir stets als unglaublich taktlos und menschenverachtend erscheint und die Problematik der Komplimente für physische Eigenschaften in einem offiziellen Umfeld aufzeigt:

    Mir fällt immer wieder unangenehm auf, dass in (bemerkenswerter Weise in erster Linie in von Frauen verfassten) Berichten über weibliche Opfer männlicher Gewalt die Schönheit des Opfers hervorgehoben wird. Wiewohl mir klar ist, welchem Zweck dies dienen soll, führt dies nur dazu, dass ich anschließend das Opfer objektifiziere und unter dem Blickwinkel der Attraktivität betrachte. Das ist meiner Meinung nach ein Unding, schließlich sollte man gerade Opfer jeglichen Unrechts nicht noch zusätzlich entwürdigen – zumal die Tat ja nicht weniger schlimm wäre, wenn das Opfer hässlich sein sollte! Auch hier würde ich daher eine größere Sensibilität für die Konnotationen, die mit physischen Komplimenten einhergehen begrüßen.

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