Jura in Debatten: Aus großer Macht folgt nicht immer große Verantwortung
Georg Sommerfeld studierte einst Jura und teilt mit der Achten Minute das jursitische Basiswissen, welches auch für Debatten von Vorteil ist. Er sagt jedoch: „Man gewinnt nicht, indem man sich auf eine Autorität beruft, sondern indem man in dem Ringen um gute Mechanismen, Werte und Letztbegründungen die Nase vorn hat.“ Sein Artikel soll eine Idee davon vermitteln, wie man sich gegen Expertenkenntnis auf dem Gebiet des Rechts wehren kann.
Grundsätzlich gibt es drei Probleme von Jura im Zusammenhang mit Debatten: Zumeist werden eigene juristische Kenntnisse überschätzt. Das führt dazu, dass juristische Argumentation auf der Prinzipienebene oft nicht weiter geführt werden als bis zum Grundgesetz, wie es momentan durch das Bundesverfassungsgericht ausgelegt wird. Diese Lücken werden zu selten erkannt und gestopft. Denn: Das volle Potential des rechtswissenschaftlichen Studiums wird in der Vorbereitung nur selten erkannt und in Debatten fast nie ausgeschöpft.
1. Juristische Spezialkenntnisse werden als zu wichtig bewertet.
Das Fachwissen von Jurastudenten ist im Verhältnis zu vielen anderen Wissenschaften scheinbar überdurchschnittlich oft relevant für Debatten. Insbesondere die Inhalte aus den Fächern Staatsrecht, Strafrecht und Völkerrecht werden in Debatten thematisiert. Mit Einschränkung hilft auch noch ein Seminar im Familienrecht, Polizei- und Ordnungsrecht sowie Urheberrecht. Es erscheint verlockend, mit diesen beschriebenen Fachkenntnissen Debatten zu dominieren. Leider entzieht man sich dadurch oft dem eigentlichen Streitpunkt, den Abwägungen von Werten und dem Entkräften von Mechanismen.
- Beispiel: DHW die Bundeswehr im Inneren einsetzen.
Die Regierung ist mutig und lässt im Zweifel auch Demonstrationen militärisch auflösen, wenn sie außer Kontrolle geraten (1. Mai, Tötungsdelikt an der Startbahn West etc. …). Als Argument bringen sie vor, dass Grundrechte vor allem durch den Staat geschützt werden und es deshalb gerade der wirkungsvolle Grundrechtsschutz erfordert, dass im Zweifel einzelne Rechte eingeschränkt werden, um den Staat als Gesamtheit zu schützen.
Der Jurist aus der der Opposition kennt nun aber leider Art. 87a Absatz 4 des Grundgesetzes und antwortet: „Die Regierung verfehlt ihren Auftrag vollständig. Denn die Bundeswehr darf doch schon eingesetzt werden, daher hat die Regierung den Status quo nicht verändert.“ Anstatt sich mit den guten Prinzipien auseinanderzusetzen, versucht sie in die Faktenkenntnis zu fliehen.
2. Beispiel: DHW die NPD Verbieten.
Entsprechend ihrer Position beantragt die Regierung, dass die NPD verboten werden soll. Die Partei wolle die Menschenwürde abschaffen und auch den Rechtsstaat. Und damit sei sie verfassungsfeindlich. Oder so. Die rein juristisch argumentierende erste Opposition stellt dagegen: Abschaffen von Menschenwürde und Rechtsstaat ist noch lange kein Verbotsgrund. Denn das Grundgesetz sieht ja gerade vor, dass auch diese Prinzipien abgeschafft werden können. Man müsse sich nur eine neue Verfassung geben. Das könne man entsprechend des Art. 146. machen. Und warum soll dann das Volk nicht in freier Entscheidung auch den Rechtsstaat abschaffen können? Und mehr wolle doch auch die NPD nicht.
Die Opposition hat sich leider nicht mit den guten Prinzipien der ersten Regierung auseinandergesetzt. Dafür hätte sie durchaus das hinter dem Art. 146 stehende Prinzip nehmen können: Jedes Volk hat das Recht, sich in freier Entscheidung eine komplett neue Verfassung zu geben. Stattdessen stellt sie einfach die faktische Unmöglichkeit des Antrags fest. Art. 146 ist leider nicht so bekannt, als dass nicht immer wieder Debattierer davon überrascht werden. Im schlimmsten Fall ist dann die Regierung tatsächlich verunsichert, sie kommt ins Taumeln, die Debatte wird schlecht.
Wenn es besser läuft, dann weiß die Regierung wenigstens darauf zu antworten, dass Art. 21 Absatz 2 dennoch ein Verbotsverfahren vorsieht. Daraus leiten sie ab, dass die Mütter des Grundgesetzes also offensichtlich ein Verbot auch unter den Möglichkeiten des Art. 146 einplanten. Dann schließen sie mit einem lateinisch zitierten: Lex spezialis derogat lex generalis ab. Der Jurist auf der anderen Seite gibt dann hoffentlich Ruhe.
Im Ergebnis dieses besseren Ausganges wurde das Publikum aber dennoch gelangweilt und wertvolle Zeit verschwendet. Nur ist dann immerhin noch der Weg frei, die Prinzipien frei von faktischen Unmöglichkeiten zu debattieren.
3. Beispiel: Strafrechtsdebatten
Sie sind besonders beliebt. „Strafrecht, das schärfste Schwert des Staates“. Im Gegensatz zu anderen Themen ist hier der jeweils große Schaden für Betroffene auch intuitiv greifbar. Strafrecht wird aber im Gegensatz zu Staatsrecht so gut wie nie in der Schule oder in verwandten Studiengängen gelehrt. Die meisten Fachkenntnisse von Fachfremden stammen, wenn überhaupt, aus amerikanischen Gerichtsserien oder dem Tatort.
Die Asymmetrie des Wissens ist hier deshalb so ausgeprägt wie sonst kaum in Jura-Debatten.
Gerät man dann an einen Juristen, so wird einem besonders häufig die Undurchführbarkeit des eigenen Antrages vor allem damit begründet, dass man irgendein Detail im jetzigen Strafrechtssystem übersehen hat. Jetzt kann man darüber streiten, ob ein durchschnittlich gebildeter Zeitungsleser wissen sollte, was den Unterschied zwischen Mord, Totschlag und fahrlässiger Tötung ausmacht; dass Gefängnisausbruch nicht strafbar ist; dass man meist keinen Anwalt gestellt bekommt ; dass es im Gericht keine wörtlichen Protokolle gibt; dass Selbsttötung straffrei ist. Aber egal, wie man nun entscheidet, die alleinige Kenntnis einzelner Strafrechtsfakten darf nicht den grundsätzlichen Ausgang einer Debatte entscheiden.
Detailfehler sollten höchstens geklärt werden, um die Debatte weiter zu ermöglichen: „Die Regierung hat zwar im Antrag von Totschlag gesprochen. Sie geht wohl davon aus, dass es sich dabei um fahrlässige Tötung handelt. Tatsächlich ist Totschlag genauso absichtlich wie ein Mord. Nur eben ohne besonders böse Begehungsweise, wie z.B. sexuelle Motive, Habgier oder dergleichen. Da es hier aber um keine mündliche Prüfung geht, sondern um die Frage, wie unsere Gesellschaft prinzipiell aufgebaut sein soll, gehen wir davon aus, dass sie in Wirklichkeit nur die fahrlässige Tötung nicht mehr mit Gefängnis bestrafen möchte, den Totschlag schon. Dennoch müssen wir ihnen aus folgenden drei Gründen auf der prinzipiellen Ebene widersprechen…“ Das wäre schön zu hören. Leider passiert aber meist das Gegenteil. Oft noch gespickt mit dem zweiten Problem, dem sich dieser Artikel widmet.
2. Juristische Kenntnisse reichen oft nicht weiter als ein Schwein scheißt.
Oft gehört, doch fast nie hilfreich in einer Debatte: „…das verstieße dann gegen die Menschenwürde. Denn das Bundesverfassungsgericht hat die Objektformel aufgestellt. Und das darf nicht geändert werden wegen der Ewigkeitsklausel.“ Hier muss man jedoch auch den Juristen verstehen: Typische Klausuren erfordern als tiefste Ebene fast immer nur das Abwägen von Prinzipien, die dem Grundgesetz entnommen werden können. Dabei gibt es sogar besonders viele Punkte, wenn man etablierte Formeln der Abwägung aus der aktuellen Rechtsprechung fast wörtlich wiedergeben kann.
Laien sind dafür aber auch anfällig. Das Bundesverfassungsgericht ist ziemlich beliebt. Jeder kennt ein paar Urteile, die ihm oder zumindest irgendeinem Bekannten neue Rechte zugesprochen haben. Sie lösen sogar absurde Streitigkeiten über Stuhlprobleme. Da kann es doch auch nicht falsch sein, wenn sie dieser „Menschenwürde“ mal eine zitierbare Form geben. Die Politiker aus der Finaljury sind dann zum Glück auch noch verpflichtet, alle „Klarstellungen“ „aus Karlsruhe“ „zu begrüßen“.
Und das ist ein Problem. Niemand käme in einer Debatte auf den Gedanken, die Empfehlungen der Bundesärztekammer über das Verbot von Blutspenden von Schwulen als verbindlich anzusehen. Auch nicht mit solch lustigen Roben.
Hier gibt es aber eine bewährte Verteidigungsstrategie gegen das Gericht:
- Ruhe bewahren: Wenn die Entscheidung schon von einem oberen Gericht oder sogar vom Verfassungsgericht entschieden werden musste, dann gibt es meist immer auch eine plausible Gegenmeinung. Aus Tradition und vielleicht auch Demut ist sie bei Urteilen des Verfassungsgerichts mit abgedruckt. Ein sogar unter Nicht-Juristen sehr bekanntes Sondervotum findet sich hier.
Abstrakt andeuten, dass Autoritäten keine absolute Autorität in Debatten haben können. Denn nicht jeder hat Ehrfurcht vor ihnen. - Sonst bräuchte man ja nicht zu debattieren.
- Wenn das immer noch nicht reicht, dann muss man die Ehrfurcht mit Schmutz bewerfen. Das ist gar nicht so schwer. Jedes nicht mehr ganz junge Gericht hat ein paar Leichen im Keller. In den Vereinigten Staaten funktioniert dafür Dred Scott v. Sandford sehr gut.Im Falle des Verfassungsgerichts eignet sich ein Urteil aus den 50ern. So leitet es unter anderem aus der Anatomie primärer Geschlechtsorgane ab, dass männliche Homosexualität gefährlicher ist als weibliche. Damit hat es den intellektuellen Beitrag geleistet, dass in der Bundesrepublik mehr Männer für Homosexualität verurteilt wurden als im Dritten Reich (vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, Seite 578, 3. Auflage).
- Beschäftigt euch noch mit dem folgenden Teil.
3. Das volle Potential der Rechtswissenschaft wird in der Vorbereitung nur selten erkannt und in Debatten fast nie ausgeschöpft.
Am Anfang seines Debattierlebens hört man oft, dass man zu oberflächlich argumentiert. Hier kann die Rechtswissenschaft sogar einmal helfen. Ihr Gegenstand ist schließlich das Recht. Und das ist nichts anderes als ein mehrheitsfähiger „Antrag“ um einen Interessenkonflikt zu lösen. Nun ist man als Debattierer immer auf der Suche nach guten und damit nicht oberflächlichen Anträgen. Einige Juristen machen das schon seit über 2000 Jahren. Das Ergebnis hilft uns. Das Teilgebiet nennt sich Rechtsphilosophie. Die Grundfrage lautet: Was ist Recht? Wie kann man gutes Recht erkennen?
Einer der angesagtesten Vertreter dieses Faches heißt Hans Kelsen. Er wird sogar vom Papst als schlechtes Beispiel für Werteverfall zitiert. Kelsen ist vor allem bekannt dafür, dass er alles als „Recht“ betrachtet, was von einem anerkannten Gesetzgeber gesetzt wurde. „Gesetzt“, ein wenig wild übersetzt, heißt auch „positioniert“. Daher nennt man diese Richtung den Positivismus. Sie eignet sich in Debatten vor allem für die schnelle Erwiderung.
Über Positivismus regen sich die Naturrechtler auf. Für sie muss ein Gesetz auch „richtig“ sein, damit es Recht ist. Recht heißt auch deshalb Recht, weil man früher der Meinung war, nur mit der rechten Hand kann man Dinge richtig erledigen. Sie suchen deshalb nach der echten Wahrheit.
Mit objektiven Wahrheiten macht man sich im Debattieren aber immer ein wenig lächerlich. Daher schwingt der Naturrechtler völlig zurecht die Nazikeule. Er sagt, dass ja wohl nicht alles „Recht“ sein kann, was irgendein Gesetzgeber anordnet. Sonst wäre ja auch Naziunrecht „Recht“ im eigentlichen Sinne. Und da weiß ja jeder, dass unabhängig von der Formalität dieses Rechts, schon der Inhalt nie richtig sein kann.
Hans Kelsen entgegnete, dass das zwar keine schöne Vorstellung ist, mit Nazirecht als „Recht“. Man müsse aber erkennen, dass es leider gar keine Einigkeit gibt, welche Quellen der Natur denn stattdessen Recht schaffen. Und selbst der Antifaschismus ist leider keine für jeden erkennbare Naturkonstante.
Die Frage nach dem rechten Recht kann so stundengelang weitergeführt werden. Viele weitere gute Ideen können in dem Gebiet der Rechtsphilosophie gefunden werden. Und die meisten davon sind sehr brauchbar für das Debattieren.
Kurz gesagt: Egal was gerade als „Recht“ behauptet wird: Man hat immer eine Reihe von Möglichkeiten, die Rechtsquelle anzugreifen. Sie sind immer nur Ausdruck der Vergangenheit und können nie absolut in der Zukunft Gültigkeit haben.
Der Autor: Georg Sommerfeld ist Vizemeister im Deutschsprachigen Debattieren und Gewinner zahlreicher deutschsprachiger Debattierturniere. Er ist Mitglied in der Berlin Debating Union e.V. und studierte an der Humboldt Universität Berlin Jura.
1. Was ist Gerechtigkeit – Hans Kelsen – ca. 3€, 83 Seiten: Noch nie habe ich zuvor ein so schön gegliedertes und mit Zwischenüberschriften versehenes Buch gelesen. Er zeigt jeweils auf weniger als einer A5-Seite, wie man Kant, Kommunismus und ko sehr leicht in ihrem absoluten Anspruch entkräften kann.
2. Fast alles was Recht ist – Uwe Wesel –ca. 15€, 430 Seiten: Hiermit weiß man dann wirklich fast alles, was auch ein Jurist zu den meisten Themen lernt. Und man kann es besser und anschaulicher erklären.
3. Geschichte des Rechts – Uwe Wesel 35€, ca. 650 Seiten Das ist der Klassiker. Und dennoch gut zu lesen. Das zeigt dann, dass wirklich alles auch anders geregelt sein kann. Und meist auch geregelt wurde.
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Text: Georg Sommerfeld/ak
Ganz hervorragend, schönen Dank!
Danke dir, Georg.
großes Kompliment auch an H&M für die Auswahl des Fotos 🙂
Danke für die Buchempfehlungen!