Entempört euch!
Empört Euch! ist ein im Jahr 2010 veröffentlicher Essay des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel. Lillian Seffer hat das Buch zum Anlass genommen, ein Plädoyer für Entempörung in der Debatte zu halten.
Empörung an sich scheint nichts Schlechtes zu sein. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen zu einer kategorischen Meinungslosigkeit tendieren, in der selbst die Politik von einem moralischen Vakuum durchzogen ist, kann es wertvoll sein sich auch mal zu empören. Stéphane Hessel hat nach seiner Analyse der weltpolitisch relevanten Fragen festgestellt, dass trotz eines drohenden Völkermords im Konflikt im Gaza und massiven wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in den Demokratien des 21. Jahrhunderts kein echter Unmut aufkommt (vgl Hessel 2011: 16). Er ruft in seiner Streitschrift zur Empörung auf.
Mit diesem Begriff meine ich hier die Erschütterung über politische und gesellschaftliche Prozesse, den emotionalen Aufschrei – „Hier läuft etwas falsch!“, oder einfach den überraschenden Moment, in dem Mensch feststellt, dass die Welt doch ganz anders funktioniert als bisher angenommen.
Sich zu empören über „richtig“ oder „falsch“, über „gut“ und „böse“ setzt voraus, dass Mensch bereits vorher eine Idee des Guten hat, diese muss nicht feststehend sein und kann sich auch mit der Zeit fortentwickeln. Ohne diese ist es offensichtlich schwerer eine Abkehr des moralisch vertretbaren für sich persönlich zu identifizieren.
Im Debattiersport
Im Debattieren kann diese Empörung nur Mittel sein und darf kaum eine echte Reflexion widerspiegeln, denn diese wird vor allem blind machen. Empörung als Mittel, wird sich besonders in einem Auftreten mit „Nachdruck“ widerspiegeln. Es wird einen dazu befähigen Leute auf einer emotionalen Ebene mitzunehmen und wird dazu verhelfen den Ton der Debatte zu treffen. In dem ich mir bereits in der Vorbereitungszeit meine Rolle als „Anwalt der Gerechtigkeit“ oder als „Verteidiger des kapitalistischen Wertesystems“ überlege, kann ich künstlich zurechtlegen, wofür und wogegen ich moralisch auftreten möchte.
In diesem Rollenspiel, in dem man allzu oft sich selbst spielt, ist echte Empörung allerdings schmerzhaft. Das Format macht es möglich, das eben diese überraschenden Momente, wo Menschen Dinge sagen, bei denen für einen persönlich sicher war, diese Dinge würden nicht einmal mehr gedacht, wieder in die Waagschale geworfen werden. Dennoch echte Empörung ungläubiger Verzweiflung über den Rückschritt der Menschheit oder Wut über „falsche“ Aussagen, wird an dieser Stelle dem Wettstreit um das bessere Argument nicht gerecht. Besonders wenn eine Rede einen echten Aufschrei provoziert, sollte es kein Schweres sein durch einen kühlen Kopf und durchdachte sieben Minuten mit Respekt vor dem Argument diese Position zu entkräften.
Der Respekt vor dem Argument ginge bereits im Vorhinein durch die Identifikation des gesagten als „falsch“ oder „illegitim“ verloren.
Die Dialektik
Der sportliche Charakter des Debattierens erweckt den Ehrgeiz auf jeder willkürlich zu gelosten Position, zu möglichst jedem Thema schlagende Argumente zu finden. Das bedeutet, ich denke mich in viele Argumentationslinien, die im gesellschaftlichen Kontext irgendwo Relevanz finden hinein. Der Mehrwert ergibt sich in einem unglaublich hohen Maß des Verstehens von Meinungen und Positionen – daraus kann ein Reichtum an interkultureller Empathie entstehen. Das ist natürlich auch nur mein so verklärter Blick auf den Menschen, der mich zu solchen Aussagen bringt. Aber wir können dies ja als Idealtyp nach Max Weber verstehen.
Diese interkulturelle Empathie ist in meinem Weltbild, der wohl höchste zu verteidigende Wert einer Gesellschaft und sollte es somit auch in ihrem diskursiven sportlichen Abbild der Debatte sein. Das Problem hat seine Wurzel aber im gleichen Streben.
Es steht dem Wert gegenüber eine Idee des Guten zu haben. Die Fähigkeit den persönlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess vom Debattieren zu trennen, scheint utopisch und würde ja auch dem eigentlichen Gewinn – der interkulturellen Empathie – wiedersprechen. Gut sieht man das an dem Phänomen bei langjährigen erfolgreichen Debattierer*Innen, die auf der Suche nach etwas wahrem scheinen. Diese haben vielleicht das verloren, was eigentlich in unserer Gesellschaft, glaubt man Stéphane Hessel, so dringend gebraucht wird – ihre Empörung.
Ich persönlich möchte mir einen Zwischenweg suchen, der mich sportlich und menschlich dazu befähigt, die Menschen zu hören und darüber hinaus die Fähigkeit des Verstehens bietet. Einen Weg der mich als Individuum schützt in eine Rhetorik der Wut und des Schmerzes zu verfallen. Vielleicht ist es möglich durch eine gezielte Reflexion sich seine Ideen und identitätsformenden Werte aufrechtzuerhalten, denen Mensch dann auch den so viel gescholtenen Anspruch des absoluten geben kann.
Die Autorin: Lillian Seffer studiert Politikwissenschaft am Otto Suhr Institut in Berlin. Sie hat das Paris Open 2012 gewonnen und stand im Finale der ODM 2013 und sowie des Berlin Punk 2011. Sie debattiert seit eineinhalb Jahren bei der Berlin Debating Union e.V
Zum Buch: Stéphane Hessel 2011: Empört Euch, Ullstein Buchverlage, Berlin.
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Text: Lillian Seffer/ak
Dass der Artikel einen Blick auf die emotionalen und identitätsstiftenden Fragen der Überzeugung wirft, ist interessant, Danke!