Viktor Tschernenko (l.) und Valerii Shkuropat (r.) von der Friedrich-Schiller-Universität Jena Foto: Viktor Tschernenko, Uni Jena

Viktor Tschernenko, deutschsprachiger Meister 2020 in der Kategorie Deutsch als Fremdsprache, befindet sich aktuell in Kyiv. Im Folgenden schildert er seine Erfahrung seit dem russischen Kriegsbeginn.

Hallo Viktor, stelle dich bitte kurz vor.

Ich bin Viktor, 24 Jahre alt, komme aus der Ukraine und befinde mich gerade in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv. Ich bin in der Ukraine geboren, hier aufgewachsen und bin nach meinem Bachelor-Studium mit einem DAAD-Stipendium nach Jena gekommen. In Jena habe ich Rechtswissenschaften mit dem Abschluss LL.M. studiert und ab Herbst 2019 zunächst bei der DaF-Debatte und anschließend bei den Muttersprachlern debattiert.

Ich möchte euch etwas Einblick von der Situation vor Ort geben. Vielleicht könnt ihr von Außen etwas bewirken.

Wie hast du den russischen Angriff erlebt?

Ich wohne seit einigen Monaten wieder in Kyiv und wurde in den Morgenstunden des 24. Februar aufgeweckt, weil es so viele Bombenabwürfe gab. Ich wünsche mir, dass ihr sowas in eurem Leben nie erlebt, weil es eine schreckliche Situation ist: ich habe panisch versuchst meinen Koffer zu packen und die wichtigsten Unterlagen zu finden. Dann habe ich meine Eltern und Freunde angerufen und ihnen erklärt, sie müssen die Stadt verlassen.

Die nächste Nacht habe ich in einer U-Bahn-Station verbracht, weil es aufgrund der Luftangriffe zu unsicher war. Da die erste Station überfüllt war bin ich zur nächsten gegangen.

Es war aber insgesamt gut organisiert. Tagsüber herrschte anfangs mehr Panik. Es gab lange Schlangen vor den Supermärkten und Geldautomaten. Da das Bankensystem stillgelegt ist, kann man nun kein Geld mehr abheben.

Das, was Russland macht, ist einfach unvorstellbar. Es gab die letzten Tage viele Luftangriffe und Bombenanschläge. Es gab zwar nicht sehr viele Tote, aber die meisten waren Zivilisten. Die russischen Angriffe verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Zivilisten sind unschuldig und müssen trotzdem leiden.

Welche Aufgabe hast Du?

Weil ich parallel zum Studium eine militärische Ausbildung absolviert habe, werde ich auf jeden Fall eingezogen. Ich habe nicht darauf gewartet, dass ich das Schreiben zugestellt bekomme, sondern habe die Leiter der militärischen Gruppen gefragt: Was kann ich tun? Wo soll ich hingehen? Wie komme ich an die Waffen?

Als ich bei der militärischen Station angekommen bin, gab es keine Waffen mehr. Gesucht wurden Soldaten für die Verteidigung des Flughafens, aber dafür werden ausgebildete Spezialkräfte bevorzugt.

Meine aktuelle Aufgabe besteht darin, Videoaufnahmen zu analysieren und mögliche Saboteure zu identifizieren. Diese Informationen schicke ich an unsere Truppen vor Ort, die gegebenenfalls eingreifen. Die letzten Nächte war ich verantwortlich für die Kommunikation zwischen den operativen Truppen und dem Hauptbüro in unserem Gebiet.

Auch wenn Du auf absehbare Zeit an keinen Debatten teilnehmen kannst: Sollte die Ukraine Mitglied der EU werden?

Es gibt verschiedene politische Entscheidungen, die der Ukraine helfen könnten.

1. Die NATO sollte dabei helfen, den Luftraum über der Ukraine zu verteidigen. Die größte Gefahr kommt aktuell von oben.
2. Die Ukraine muss zeitnah Mitglied der EU werden, nachdem sie schon für die EU die Grenzen und die Werte verteidigt.
3. EU und NATO müssen schnell Waffen an die Ukraine liefern. Wir wollen unsere Ukraine verteidigen, können es aber nur mit Waffen schaffen.
4. Die Konten und Vermögen von Putin, allen Regierungsmitgliedern und Abgeordneten müssen weltweit eingefroren werden.

Was möchtest Du den Debattierern im VDCH-Land mitteilen?

Ich wurde in der letzten Zeit häufig angeschrieben ob ich Hilfe brauche und wie es mir geht. Leute – vielen vielen Dank für diese Unterstützung und dass ihr euch für die Ukraine interessiert. Es ist schon wichtig für die Menschen zu wissen, dass wir nicht vergessen wurden. Nicht von Europa, nicht von der EU, insbesondere auch nicht von Deutschland.

Viele Debattierer sind politisch engagiert. Setzt Euch bitte dafür ein, dass die ukrainischen Forderungen gehört werden.

Viktor Tschernenko debattiert seit Oktober 2019 bei der Debattiergesellschaft Jena und gewann 2020 die Deutschsprachige Debattiermeisterschaft in der Kategorie „Deutsch als Fremdsprache“. Im September 2021 beendete er sein Studium der Rechtswissenschaften in Jena und lebt seitdem in Kyiv.

Das Interview führte Erik Thierolf von der Debattiergesellschaft Jena e.V.