Eine Theorie des Sweetspottings

Datum: 15. Februar 2023
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

Diesen Mittwoch widmet sich Lennart Lokstein dem Phänomen des „Sweetspottings“ und der Frage, wie Teams, Chefjurys und wir als Debattierszene damit umgehen können und sollten.

Gelegentlich habe ich als Teilnehmer auf einem Turnier mitbekommen, wie – sei es von Juror:innen oder Teams – geklagt wurde, ein Thema hätte einen „Sweetspot“ gehabt oder ein Team „gesweetspottet“. Ein „Sweetspot“ meint eine für eines der beiden Teams besonders günstige Position in der Debatte. Dabei schwang stets mehr oder weniger der Vorwurf mit, dass wahlweise die Chefjury ein undurchdachtes Thema gesetzt oder ein Team unsportlicherweise eine für seine Seite besonders günstige Position gewählt habe. Heute möchte ich aus drei Perspektiven auf das Konstrukt des „Sweetspots“ schauen und dabei zwei Thesen in den Raum stellen:

Erstens: Das Belegen von Sweetspots durch Teams ist wünschenswert.

Zweitens: Chefjurys sollten Themen immer so stellen, dass das Regierungsteam (den) einen wesentlichen Sweetspot in seiner Antragsreichweite hat – oder gar nicht.

 

These 1: Das Belegen von Sweetspots durch Teams ist wünschenswert

Wie eben bereits erwähnt, blicken einige Debattierende mit einer gewissen Verachtung auf Teams, die „sweetspotten“. Das geschieht üblicherweise aus einem von zwei Gründen. Einerseits, wenn ein Regierungsteam einen dahingehend optimierten Antrag stellt, dass er wesentliche Argumentationslinien, die ein Oppositionsteam bei einem anderen Antrag gehabt hätte und auf die es sich möglicherweise in der Vorbereitungszeit eingestellt hatte, abschwächt bis verunmöglicht. Hier haben Regierungsteams einen gewissen Umsetzungsspielraum eines Themas über das Stellen ihres Antrags.

Zum Beispiel wäre es beim Thema „Wehrdienst für alle“ legitim innerhalb des Umsetzungsspielraums, Alte, Kranke, Schwangere und Minderjährige auszunehmen. Alte, weil das Problem sich im Laufe der Zeit löst – nach einigen Jahrzehnten gibt es nur noch Alte, die als Jüngere Wehrdienst geleistet haben. Die übrigen Gruppen sollten aus offensichtlichen Gründen nicht auf einem Schlachtfeld herumlaufen. Nicht legitim hingegen wäre es, wenn die Regierung z.B. Frauen generell vom Antrag ausnehmen würde, immerhin etwa die Hälfte der Bevölkerung, womit von einem Wehrdienst für „alle“ eindeutig keine Rede mehr sein kann. Für den Fall, dass ein solcher Antrag (ohne Frauen) dem Regierungsteam den argumentativen Sieg in der Debatte deutlich erleichtern würde, wäre dies schlicht ein Foul. Die übrigen Fälle hingegen sind sehr sinnvolle, wenngleich vermutlich kaum als solches wahrgenommene Formen des Sweetspottings.

Ein solches legitimes Optimieren des Antrags ist aus einer Vielzahl von Gründen wünschenswert: Chefjurys können durch das Konzept des Antrags (statt direkt im Thema enthaltener, detaillierter Maßnahmen) die Teams dazu anregen, sich selbst Gedanken darüber zu machen, wie man ein Thema in der Realität tatsächlich umsetzen könnte. Debatten werden realitätsnäher und bieten mehr Übertragungspotenzial auf politische Meinungsbildung. Und für die Teams ist es einfacher, das Thema so in einen Antrag zu gießen, wie sie in der Vorbereitungszeit passende Argumente gefunden haben, und ihre Teamlinie entsprechend zu framen. Nicht jedes Team hat schließlich exakt die gleichen Gedanken beim Vorbereiten eines Themas wie eine Chefjury und fühlt sich vielleicht mit anderen strategischen Schwerpunkten wohler. Auf diesem Weg bilden wir übrigens auch deutlich eigenständigere, kritischere Analytiker:innen und kreativere Problemlöser:innen aus, als wenn diese Denkarbeit abgenommen wird.

Soweit, so gut – das Thema ist allerdings leider noch etwas komplexer. Nämlich stellen es sowohl das OPD-Regelwerk als auch der BPS-Jurierleitfaden der DDM den Oppositionsteams frei, ähnlich viele Ressourcen, wie sie ein Regierungsteam für seinen Antrag verwendet, in einen damit nicht vereinbaren „Gegenantrag“ zu investieren. Das Oppositionsteam kann frei wählen, den Status Quo oder einen entsprechenden „Gegenantrag“ zu verteidigen. Das Gefühl des unsportlichen „Sweetspottings“ kann dabei auch gegenüber Oppositionsteams entstehen, die einen besonders optimierten Gegenantrag stellen.

Auch dazu ein paar Beispiele: In einer Debatte „gegen militärische Konfliktpartei X militärisch mit Bodentruppen intervenieren“ wäre es ein legitimer Gegenantrag, stattdessen nur mit Luftschlägen oder durch Waffenlieferungen an eine bevorzugte Gegenpartei zu intervenieren – oder aber auch einfach nicht zu intervenieren, was dem Beibehalten des Status‘ Quo entspräche.

In solchen Fällen sucht sich die Opposition eine mit der Regierungsposition nicht vereinbare Gegenposition, die aber zum Teil näher an der Position der Regierung liegt als ein Verteidigen des Status‘ Quo – zum Beispiel, weil das Beibehalten des Status‘ Quo wesentlich schlechter argumentativ rechtfertigbar scheint als jene gewählte Oppositionsposition. Wichtig ist hier für das Beibehalten der sportlichen Fairness lediglich, dass die Opposition die Regierung nicht durch eine weiter vom Status Quo entfernte Maßnahme „überholt“, denn das Regierungsteam bereitet sich immer darauf vor, seine Maßnahme in Richtung der Status Quo-näheren Seite abzugrenzen und will argumentativ gegenüber dem Status Quo ein „Mehr“, während das Oppositionsteam immer ein „Nicht-ganz-so-viel“ verteidigen soll. Würde das Oppositionsteam nämlich ein „Noch-Mehr“ fordern, hätte das Regierungsteam zwingend einen Konsistenzbruch zwischen seiner ersten und zweiten Rede, da es nun statt „Mehr“ auf einmal „Nicht-ganz-so-viel“ verteidigt. Das wäre ein sehr großer Nachteil, weshalb die Teams sportlich auf das „Mehr“ und das „Nicht-ganz-so-viel“ verpflichtet sind.

Sowohl ein Regierungs- als auch Oppositionsteam kann also einen (legitimen) Sweetspot wählen. Meine These ist nun: Das sollten sie immer tun. Zunächst einmal aus einer sportlichen Perspektive: Es erhöht ihre Siegchancen. Aber auch für die Qualität der Debatte. Erst, wenn beide Teams die beiden bestmöglichen Umsetzungen eines Themas vertreten, werden Clashes auf den strittigen, zu entscheidenden Kern der Streitfrage reduziert. Wenn sich hingegen nach der Debatte alle Beteiligten und das Publikum fragen, warum man sich eigentlich nicht für die sinnvolle(re) Position in der Mitte entscheiden durfte, hat sich die Debatte nicht der relevantesten Frage zum Thema gewidmet. Wenn man die Streitfrage nämlich ernsthaft als Entscheidungsfrage zu versteht, ergibt ein Streit nur dann Sinn, wenn sich die beiden besten Handlungsoptionen gegenüberstehen.

An dieser Stelle könnten einige Vertreter:innen der Fraktion, die „Sweetspotting“ als ein Problem erachten, einwenden, dass manche Themen unter Zulassung bestimmter Sweetspots aber unausgeglichen werden. Damit haben sie im Grunde Recht – und das führt zu meiner zweiten These.

 

These 2: Chefjurys sollten Themen immer so stellen, dass das Regierungsteam (den) einen wesentlichen Sweetspot in seiner Antragsreichweite hat – oder gar nicht.

In früheren Debattierzeiten waren Oppositionsteams immer und ausschließlich auf das Verteidigen des Status‘ Quos verpflichtet. Diese Maßnahme machte es Chefjurys recht einfach, Themen auf ihre Ausgeglichenheit hin zu prüfen: Wenn der bestmögliche Antrag der Regierung und der Status Quo in etwa gleich starke Sweetspots abbilden, kann man ein Thema setzen.

Heute haben Chefjurys es da etwas schwieriger: Durch die gewachsene Freiheit der Standpunktwahl für Oppositionsteams auf den gesamten Bereich des „Nicht-ganz-so-viel“s müssen auch sinnvolle Gegenanträge bei der Frage der Ausgeglichenheit Berücksichtigung finden. Gleichzeitig erschließt die Maßnahme ein Vielfaches an nutzbaren Themen, da durch das größere Spektrum an Oppositionspositionen logisch zwingend mehr Themen in den Bereich des Ausgeglichenen fallen müssen.

Der Autor: Lennart Lokstein als Finaljuror bei der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2022 in Wien – Foto: Debattierklub Wien

Aus meiner Perspektive ist das ein großer Gewinn für das Debattieren – denn statt nur einem denken nun zwei Teams pro Debatte darüber nach, wie man ein Problem eigentlich am sinnvollsten lösen könnte.

Der Zugewinn an möglicherweise ausgeglichenen Themen und mehr lösungsorientiertem Denken kommt aber auch mit einem Risiko – nämlich genau dann, wenn dem Regierungsteam nicht eine (der) stärkstmögliche(n) Position(en) in seinen legitimen Antragsbereich gelegt wird. Der Grundgedanke ist dabei recht simpel: Nur, wenn ein Thema zwei ähnlich starke Sweetspots hat und die Regierung denjenigen erhält, der sie das „Mehr“-Prinzip vertreten lässt, kann die Debatte funktionieren.

Manchmal kommt es aber vor, dass sich Chefjurys denken „Moment mal, das Thema können wir nicht so formulieren, dann ist die Regierungsposition zu stark“ – und sich dann für eine Formulierung entscheiden, die der Regierung diesen existenten Sweetspot verweigert. Das kann eine Chefjury auf zwei Weisen tun – indem sie die Regierung in Richtung Status Quo und „Nicht-ganz-so-viel“ schiebt – oder über den Sweetspot hinaus in Richtung „Mehr“. Beides halte ich für problematisch. Die erste Variante, weil allen Beteiligten eine Debatte über eine sinnvollere Umsetzung vorenthalten wird und sich Publikum wie Redner denken werden „Warum machen wir es eigentlich nicht gleich sinnvoll?“. Sportlich ist es allerdings die harmlosere Variante. Richtig problematisch wird es dann, wenn die Regierung auf ein „Noch mehr“ als den sinnvollen Sweetspot verpflichtet wird. Das sind die Fälle, in denen ein Oppositionsteam sich dann nämlich strategisch sinnvollerweise den der Regierungsposition tendenziell stärkeren Sweetspot schnappt – was eigentlich legitim ist. Dennoch dürfte diese Situation die häufigste sein, die die eingangs beschriebene Reaktion bei anderen Debattant:innen auslöst. Ich glaube, ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der Sweetspot offensichtlich eine bessere Position ist, das Nichtwählen der Sweetspots – und damit technisch gesagt: die Selbsteinschränkung des Oppositionsteams – eine ausgeglichenere Debatte ergeben hätte. Die Situation rührt also am sportlichen Ehrgefühl. Im Kern wird den Oppositionsteams vorgeworfen, die suboptimale Themenstellung durch die Chefjury nicht im eigenen Ermessen begradigt zu haben, um eine ausgeglichenere Debatte zu führen. Ich halte es nicht für zielführend, mit dieser Erwartungshaltung an Teams heranzutreten.

Stattdessen sehe ich die Lösung darin, dass Chefjurys ein größeres Bewusstsein für den Umgang mit Sweetspots in Themen entwickeln müssen. Im Grunde ist es ganz einfach: Solange das Regierungsteam in seinem Antrag den Sweetspot wählen darf, funktioniert das Thema prinzipiell. Falls man das Regierungsteam hingegen künstlich in Richtung Status Quo schiebt wird die Debatte befremdlich (, kann aber noch funktionieren). Schiebt man es über den Sweetspot hinaus vom Status Quo weg, kann das Thema nicht mehr ausgeglichen funktionieren, es sei denn, das Oppositionsteam begradigt den Fauxpas, indem es den Sweetspot netterweise ignoriert. Deshalb würde ich empfehlen, Themen genau dann zu stellen, wenn es zwei (oder mehr) ähnlich starke Sweetspots gibt (von denen einer der Status Quo sein kann, aber nicht muss), und zwar so, dass das Regierungsteam den „Status Quo-fernsten“ der Sweetspots erhält. Sollte aber der Sweetspot zu stark sein, ist es vielleicht einfach kein gutes Thema und man sollte nicht versuchen, es durch Verpflichtung des Regierungsteams auf eine schwächere Position künstlich fairer zu gestalten.

Die freie Positionswahl der Oppositionsteams im gesamten Bereich des „Nicht-ganz-soviel“s hat uns gegenüber der Verpflichtung auf den Status Quo ein riesiges Spektrum an Themen erschlossen. Wir sollten akzeptieren, wenn ein Thema dennoch nicht im Bereich des Ausgeglichenen liegt – auch, wenn wir den Themenbereich vielleicht sehr interessant oder aktuell finden.

 

Lennart Lokstein debattierte von 2013-2020 bei der Streitkultur e.V. in Tübingen. Seit 2021 widmet er sich dem Wiederaufbau des Debattierclubs Saar e.V. in Saarbrücken. Er war im Laufe zahlreicher Ehrenämter unter anderem Vorstandsvorsitzender der Streitkultur e.V., Chefredakteur der Achten Minute und Präsident des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen e.V. und gewann außerdem die Deutschsprachige Debattiermeisterschaft 2016.

Das Mittwochs-Feature: Mittwochs veröffentlicht die Achte Minute ab 10.00 Uhr oftmals ein Mittwochs-Feature, worin eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt gestellt wird. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Artikel-Vorschaubild von: katja auf pixabay.com .

lok.

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1 Kommentare zu “Eine Theorie des Sweetspottings”

  1. Samuel (formerly SK) sagt:

    Mein Verständnis von Sweetspot und so wie ich es immer anderen erklärt habe war „Optimale policy innerhalb einer Debatte die nicht klar auf eine oder die andere Seite gehört und deshalb von beiden Seiten beansprucht wird“. Beispiele hierfür wären:
    -DHP laissez faire Eltern gegenüber Tiger parents (der Sweet spot ist eine Mischung aus Disziplin und Freieheit, die beiden Teams für sich beanspruchen wollen)
    -Ist ein heterogener Freundeskreis gegenüber einem homogenen zu bevorzugen (wahrscheinlich wollen wir ein bisschen von beidem ohne super extrem in beide Richtungen zu gehen)

    Dein Argument scheint Sweetspot implizit als „intelligenter Antrag“ zu definieren. Intelligente Anträge sind gut aber glaube ich auch nicht kontrovers. Der Punkt davon „Sweetspots“ als CA-Panel zu vermeiden ist dass man Themen stellt in denen es keine offensichtlich superiore Lösung gibt die nicht klar auf einer der beiden Seiten in der Debatte steht weil wir dann keine spannende Debatte bekommen sondern eine Definitionsschlacht in der alle Teams behaupten „Erziehung mit ein bisschen Freiheit und ein bisschen Disziplin“ sei offensichtlich auf ihrer Seite.

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