Zuschauer dringend gesucht – Debatten vor Gericht

Datum: 3. Mai 2012
Redakteur:
Kategorie: Politik und Gesellschaft

Vor Gericht finden große, wichtige Debatten statt – leider fast ohne Publikum.

Wenn der Streit in Berlin ein Zuhause hat, dann ist es nicht der Bundestag oder das Studio von „Maybrit Illner“, sondern ein wilhelminischer Prunkbau in der Moabiter Turmstraße, nur einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt: Im Berliner Kriminalgericht, Europas größtem Strafgericht, debattieren jeden Tag Hunderte von Staatsanwälten und Strafverteidigern über Schuld und deren Sühne: Verdient A, der die B aus Eifersucht umbrachte, wegen seines Motivs eine härtere Strafe? Durfte C den Polizisten D als Rassisten bezeichnen, weil dieser gezielt Schwarze kontrollierte? Handelte E in Notwehr, als sie ihrem Ehemann F mit einem Messer ins Herz stach, um sich vor dessen Schlägen zu schützen?

Wenn vor Gericht verhandelt wird, findet keineswegs nur juristisches Klein-Klein statt, lieblos vorgetragen und ohne Relevanz über den Einzelfall hinaus. Die gesellschaftliche Tragweite der Debatten vor der Richterbank ist offensichtlich, wenn vor dem Bundesverfassungsgericht über Schwangerschaftsabbruch, Euro-Rettungsschirme oder Kopftücher gestritten wird, doch sie ist oft nicht minder groß bei einer Strafsache vor dem Amtsgericht oder einem Prozess vor dem Verwaltungsgericht. So banal die Fälle dort scheinen, so verklausuliert die in die Systematik des Rechts gepressten Argumente wirken – fast immer geht es darum, wie weit individuelle Freiheit reicht, welches Verhalten bestraft werden muss, wann sich der Staat einmischen darf und wann nicht.

Doch leider finden diese Debatten fast ohne Publikum statt – von Justizspektakeln wie dem Kachelmann-Prozess abgesehen. Beim Bundesverfassungsgericht ist die Zuschauertribüne zwar immer gut gefüllt, aber mehr als ein paar Politik-Leistungskurse finden dort auch nicht Platz. Fernseh- oder Radioübertragung ist nicht gestattet. Als Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle vor zwei Jahren öffentlich das Bild- und Ton-Verbot in Frage stellte, schlug ihm aus der Fachöffentlichkeit panischer Widerspruch entgegen: Wenn man beim Verfassungsgericht die Kameras erlaube, habe man bald auch Strafprozesse live auf RTL2.

Dass die geschichtsträchtigen Debatten in Karlsruhe immer nur einem kleinen Kreis vorbehalten bleiben, ist ein Jammer: Mündliche Verhandlungen vor dem Verfassungsgericht sind oft beglückend ernsthafte, konzentrierte und scharfsinnige Auseinandersetzungen, ein politisches Vergnügen der Extraklasse. Daneben wirken selbst Heiner Geißlers Bahnhofs-Schlichtungen unsachlich und polemisch.

Genauso schade ist, dass die Zuschauerbänke in den einfachen Gerichten in der Regel gähnend leer sind. Verirrt sich im Moabiter Kriminalgericht doch einmal ein Zuschauer in den Gerichtssaal, erkundigen sich manche Richter verblüfft, wer man sei und was man hier wolle. Dabei ist es eine Bürgerpflicht, ab und zu bei einer Gerichtsverhandlung zuzuschauen. Zum einen, weil die Justiz die Kontrolle durch die Öffentlichkeit braucht. Zum anderen, weil die Debatten, die vor Gericht ausgetragen werden, alle Bürgerinnen und Bürger angehen. Wer sich die Frage stellt, in was für einer Gesellschaft er oder sie lebt, wird hier fündig. Fünf beliebige Hauptverhandlungen im Kriminalgericht Moabit sind kaum ersetzbare Lehrstunden über die unvermeidlichen genauso wie die vorwerfbaren Schwächen der Bildungs-, Sozial- und Familienpolitik, über die Mängel der Strafjustiz ohnehin.

Und nicht zuletzt lassen sich im Gerichtssaal nicht nur gedanken- und gefühlserregende Debatten verfolgen, sondern auch rhetorische Lehrstunden: Das pointierte Plädoyer der Staatsanwaltschaft trifft auf das zielloses Gemurmel der Verteidigung, eine messerscharfe Frage auf eine butterweiche Antwort. Auf einen Zeugen, der seine Halbwahrheiten geschickt in glaubwürdige Worte kleidet, folgt ein anderer, der sich um Kopf und Kragen redet. Rhetorische Erfolge und rhetorisches Versagen – vor Gericht lässt sich Beides genau beobachten. Aus dem enormen Auseinanderklaffen der Spitzen- und der Schlechtleistungen lässt sich vor allem schließen, dass es an einer systematischen Rhetorikausbildung für Juristen fehlt.

Wer Jurist werden will, der sollte also debattieren. Aber wer debattieren will, der sollte gelegentlich auch ins Gericht gehen – zur rhetorischen Anregung, zum Nachdenken und zum Abgleich der eigenen Argumente mit der sozialen Wirklichkeit. Und wer weiß: Vielleicht helfen besser gefüllte Zuschauerbänke auch der juristischen Rhetorik auf die Sprünge.

Filip Bubenheimer studiert Jura an der Humboldt-Universität zu Berlin und debattiert in der Berlin Debating Union. 2010 war er Finalist der Deutschen Debattiermeisterschaft. Dieser Text erschien zuerst im VDCH-Newsletter.

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1 Kommentare zu “Zuschauer dringend gesucht – Debatten vor Gericht”

  1. Jörn(Bremen) sagt:

    In diesem Zusammenhang auch als Lektüre zu empfehlen: Vismann: Medien der Rechtsprechung

Kommentare sind geschlossen.

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