ZEITGEIST – Debatte ist unsere Übung. Von Steve Llano (St. John’s University Debate Society, New York)

Datum: 8. Dezember 2010
Redakteur:
Kategorie: Turniere

Nach der Tradition des kyudo, der altjapanischen Kunst des Bogenschießens, üben Schüler über Jahre den Abschuss des Pfeils – ohne dabei auf eine Scheibe zu zielen. In manchen Fällen wird den Schülern erst nach zehn oder gar zwanzig Jahren eine Scheibe vorgesetzt. Davor verbringen sie zahllose Stunden damit, Pfeile anzulegen, den Bogen zu spannen, und loszulassen – scheinbar ohne Zweck.

Als erster machte der deutsche Philosoph Eugen Herrigel den Westen mit dieser merkwürdigen Kombination aus Spiritualität und Disziplin vertraut. In seinem Bestseller „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ berichtet er über seine frustrierende Begegnung mit einem kyudo-Meister während eines Aufenthalts als Gastprofessor im Tokio der 1950er Jahre. Herrigel ärgerte sich über die vermeintliche Unfähigkeit des Meisters, ihm etwas über das Bogenschießen beizubringen. Das scheint mir eine geeignete Metapher für einige der Probleme zu sein, die mir in unserem Umgang mit Debating [in den USA, Anm. d. Hrsg.] aufgefallen sind.

Das Buch ist nur kurz, aber lang ist seine Bedeutung. Herrigel fragt, warum ihm der Meister erst zum Abschluss seines Trainings konkrete Anweisungen gibt. Der Meister antwortet: „Weil du dafür nicht bereit warst.“ Für den Meister ist verfrühte Anweisung mehr als nur verlorene Liebesmüh – es ist auch schädlich für die Entwicklung eines guten eigenen Stils. Das ist der Grund, warum die Zielscheibe – vermeintlich motivierend und hilfreich bei der Übung – die Übung ruiniert. Denn beim kyudo geht es nicht darum, das Ziel zu treffen; sondern sich selbst zu treffen, mit sich selbst, durch sich selbst geschossen. Der Gegner, die Herausforderung und das Ziel sind vom Selbst nicht unterscheidbar.

Wie üben wir?

Jedem, der Debattieren lernen möchte, wird als erstes eine Zielscheibe vorgesetzt – beeindruckend und bewundernswert hoffen wir alle, mit der Zeit nicht nur die gelbe Peripherie, sondern auch das rote Zentrum zu treffen. Es verfolgt uns in Träumen und ringt uns ein Lächeln ab, wenn wir daran denken. Eines Tages werden wir ins Finale kommen. Wir werden gewinnen. Einfach auf Rot konzentrieren, auf die Eins.

Jedes Jahr begeben wir uns auf ein Boot ohne Ruder, und sind aufgeregt wegen der Reise. Zwar gibt kein sicheres Ergebnis, aber wir werden ankommen. Oh ja, der Sieg ist nur denen sicher, die an Bord gehen. Immer schön das Ziel im Auge behalten, und der Erfolg wird sich einstellen. Bloß nicht loslassen – und wenn du es nicht genau vor Augen hast, dann orientiere dich an denen, die das Bulls Eye getroffen haben – denn sie können dir große Geheimnisse offenbaren. Sie wissen, wohin der Kahn treibt.

Das Problem ist: Wenn das Ziel im Geist ist, wo ist der Geist? Was passiert mit dem Geist, wenn wir nur das Ziel vor Augen haben – und wo bleibt die Person?

Diese Fragen werden durch die Übung beantwortet, ob man sich ihnen nun direkt stellt oder nicht. Die unbeachteten Nebenprodukte dieses Ansatzes können die positiven Aspekte unserer Kunst auslöschen. Wer nur das Ziel vor Augen hat, vergisst sich selbst – die Verbindung zwischen dem Selbst und dem Pfeil geht verloren. Die Methode tritt in den Hintergrund, es zählen nur die Ergebnisse. Andere, Gegner werden zum Hindernis. Und aus den Erfolgen ziehen wir unsere Lehren – wer sonst sind die Meister, wenn nicht jene, die das Ziel treffen? Die Farben der Scheibe erscheinen immer intensiver, attraktiver, heller. Das Ziel bestimmt unser Fragen.

Dadurch werden wir zum Objekt der Debatte, bestimmt durch eine eindimensionale Praxis, die sich durch allgemeines Geschnatter auszeichnet, und gleichzeitig kein klares Zentrum, keine Autorität besitzt. Das Ziel wird heller, wir verschwinden. Die Menschen sind nur so bunt, wie das Ziel auf sie abfärbt. Das Ziel entscheidet den Wert einer Idee, anstelle des Geistes. Nicht mehr wir bestimmen über den Wettbewerb, sondern die Debatte, als Diskurs, bestimmt über uns.

In New York City versuchen wir einen anderen Ansatz. Wir zielen auf uns selbst. Der Übende, nicht das Ziel, bestimmt den Weg des Pfeils. Die Scheibe zu entfernen bedeutet: Die Bedingungen und Barrieren zum Wettbewerb zu entfernen. Denn niemand will ein Debattierturnier ohne Wettbewerb. Es ist die Grundlage alles Guten im Debating. Aber Wettbewerb ist nicht ein Weg zum Ziel; er ist ein Ziel. Es geht um die Gelegenheit, gemeinsam mit anderen klugen Leuten einen Text zu schaffen, den man reflektieren, diskutieren und kritisieren kann. Wie die Meister sagen: „Ein Pfeil, ein Leben“. Unser Motto lautet vielleicht: „Ein Argument, ein Leben.“

Seit dem frühen 20. Jahrhundert gibt es in den Vereinigten Staaten ein professionelles Trainingssystem für Debating. Universitäten bestimmen dafür ein Mitglied der Fakultät zum debate director oder debate coach. Das System ist hoch spezialisiert, und viele heutige debate directors waren schon während der Ausbildung assistant debate coach, denn das sichert ein Einkommen. Das System hat natürlich viele Vorteile, aber es birgt auch Gefahren: Dieselbe „Sportifizierung“, die sich im internationalen Debattieren ausbreitet, kann auch debate directors befallen, wenn sie in Vollzeit zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahre im Debattieruniversum tätig sind.

Daher beschäftigt mich besonders eine Frage: Wie kann das professionelle Trainingssystem in den USA zum weltweiten Debating beitragen? Mit Drill und dem Erwerb von Fähigkeiten will ich mich nicht zufrieden geben. Mich interessieren solche Konzepte wie Perspektive, Werte oder Gesinnung. Mir geht es darum, Debattieren von einem sportlichen Spiel („Zielschießen“) in eine lebenslange Übung zu überführen. In den drei Debattierprogrammen, die ich während der vergangenen vier Jahre begründet habe, liegt meine Hand am Steuer: Kein Ziel außer dem Selbst. Man zielt auf nichts, aber alles ist das Ziel. Nur Übung.

Und meine Übung ist unsere Übung. Unsere Übung ist Debatte. Was ist dein Ziel? Eine Bogenscheibe, ein Bewertungsbogen, oder ein Spiegel? Von jenseits des Atlantik hoffen wir in New York, dass Debatte mehr ist als ein paar Ergebniszahlen auf einem Zettel.

Übersetzung: Jens Henning Fischer

Stephen M. Llano, PhD

Stephen M. Llano, Ph.D. ist Lehrbeauftragter für Rhetorik und Director of Debate an der St. John’s Universität in Queens, New York. Er studierte rhetorische Theorie und interessiert sich für die Schnittmengen zwischen fernöstlicher Philosophie und Debattenpädagogie. Seit 17 Jahren ist er als Debattencoach tätig, sowohl auf Schul- sowie auf Universitätsebene. Er hat einen Ph.D. in Communication von der University of Pittsburgh, und bereist regelmäßig den Globus, um Debating zu vermitteln und weiter zu verbreiten.

Weitere Weisheiten des Zen-Meisters findet ihr auf Steves Blog:

http://progymnasmata.posterous.com

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2 Kommentare zu “ZEITGEIST – Debatte ist unsere Übung. Von Steve Llano (St. John’s University Debate Society, New York)”

  1. Trent Bellwood sagt:

    Spot on. The more I read the more I could see the truth, in my life and in others‘. I have seen myself struggle for the target for too long, when I would have been much better off struggling for myself. Thank you for your wonderful insight into the motivations of one’s self.

  2. Florian Prischl sagt:

    Thank you, Steve, for this very good article! It touches something that I have thought about a bit recently, both related to my debating and my life apart from that.

Kommentare sind geschlossen.

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