Wien deklamiert

Datum: 13. April 2010
Redakteur:
Kategorie: Neues aus den Clubs

Schuldig oder unschuldig, das ist hier die Frage. Ein Ankläger, ein Verteidiger, ein ganz konkreter Fall – darum dreht sich die Deklamation. Der Debattierklub Wien (DKW) hat diese Form des Rededuells am Abend des 12. April bei Schnitzel und Bier erprobt – und für gut befunden. –

Reden in geordneten Bahnen, auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner lassen sich die Aktivitäten eines Debattierclubs zusammenfassen. Geredet wird alleine, in Teams, gegeneinander, miteinander oder ohne Gegner. Auch die Perspektiven variieren, sind mal persönlich, mal abstrakt, mal auf einen Staat beschränkt.

Am häufigsten geredet wird im Rahmen der Parlamentarischen Debatte. Im Gegensatz zur Deklamation ist hier das wichtigste Merkmal, dass sich die Debatte um ein Problem dreht. Soll es erlaubt sein, bei Einbruch Schusswaffen einzusetzen? Gesucht wird nach einer Lösung, um diese dreht sich die Debatte. Bei der Deklamation hingegen ist es ein ganz konkreter Fall, auf den die Redner sich beziehen. Durfte Euphiletos den Eratosthenes erschießen, um sein Eigentum zu beschützen?

Die Eröffnungsrede hat nicht den Charakter eines Antrags, der wie ein Gesetz gelten soll, sondern die Gestalt einer Anklage. Heute können wir uns solch ein Rednerduell am ehesten in einem Gerichtssaal vorstellen, und tatsächlich ist die Situation denen vor einer Jury sehr ähnlich. Und im Gerichtssystem der USA ist es in der Tat sehr wichtig, dass der Ankläger frei, flüssig und logisch eine Jury aus Laienrichter von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Der Richter wacht nur über die Einhaltung des Prozesses und legt das Strafmaß fest. Auch Österreich hat solche Laienrichter, die Deklamation ist jedoch weitgehend unbeachtet in der Ausbildung österreichischer Anwälte. Dabei versteht sich von selbst, dass Redner vor einer Jury immer auch exzellente Rhetoriker seien müssen.

Tatsächlich ist diese Form der Auseinandersetzung in Übersee längst auch Unterhaltung. Kaum eine Folge der Fernsehserien Ally McBeal oder Boston Legal kommt ohne eine besonders brilliante Anklage- oder Verteidigungsrede aus. Es gewinnen selten die Unschuldigen. Die Helden sind die Anwälte. – So war das auch schon im alten Griechenland. Während die Frauen sich daheim um den Haushalt kümmerten und die Sklaven das Feld bestellten, ging der Athener zum Gericht,  falls er denn das Bürgerrecht hatte. Aus zwischen 501 bis zu 2.501 Laienrichtern bestand das Gericht im alten Athen. Insgesamt kam man auf bis zu 6.000 Geschworene. Der Dichter Aristophanes schrieb über diesen Lieblingsport der Griechen gar eine Komödie. Der Protagonist ist derart süchtig nach den Gerichtsverhandlungen, dass man ihn zur Entwöhnung in sein Haus einsperrt. Dort lässt er zwei Hunde wegen Käsediebstahls gegeneinander prozessieren.

Als Erfinder der Deklamation (meleté im griechischen, im lateinischen wird daraus dann declamatio) wie wir sie heute kennen gilt Demetrios von Phaleron oder zumindest ein Rhetoriker seiner Zeit. Er regierte Athen von 317 bis 307 v. Chr. Die Deklamationsreden waren reine Übungsreden, an deren Beginn ein reales oder fiktives Gesetz stand. Ein Fall forderte nun die Auslegung dieses Gesetzes.

Ein kurzes Beispiel:

„Gesetz sei: Wer bei Sturm das eigene Schiff verlässt, verliert alles; das Schiff und alles Übrige gehört, sofern das Schiff gerettet wird, denjenigen, die im Schiff geblieben sind.

Fall: Aus Erschrecken über die Größe eines Sturms haben alle ein Schiff verlassen und sind ins Rettungsboot gestiegen, mit Ausnahme eines Kranken. Er konnte wegen seiner Krankheit nicht aussteigen oder fliehen. Durch Zufall ist das Schiff nun unversehrt in den Hafen gelangt. Der Kranke nahm es [als sein Eigentum] in Besitz. Der frühere Eigentümer des Schiffs fordert es [zurück]“.

Man merkt schnell worum sich die Reden drehen werden. Soll das Gesetz ausgesetzt werden, da es schließlich Tapferkeit belohnen sollte und nicht zufällige Krankheit (vgl. Wilfried Stroh: Die Macht der Rede)? Das zu Begründen ist nun Aufgabe des Anklägers, der zum Zwecke der Unterhaltung gerne ein wenig ausholen darf im Spekulieren um die Intentionen des Angeklagten und die Interpretation der Normen.

Anders als im Griechenland wird heute selten zur Übung der Rhetorik deklamiert. Noch seltener ist vermutlich die Deklamation als Unterhaltung, wie es aus dem Rom des ersten Jahrhunderts nach Christus überliefert ist. Der Streitkultur Tübingen gebührt jedoch die Ehre, die Deklamation ins Bewusstsein der deutschsprachigen Debattierszene gehoben zu haben: Parallel zur ZEIT DEBATTE Tübingen 2005 wurde die Deklamation als Wettkampf der Juroren ausgetragen. Jeweils nach den Debatten traten die Juroren gegeneinander an und wurden von den Debattanten bewertet. Glorreicher Sieger des Deklamationswettbewerbs war damals Rouven Soudry vom Debating Club Heidelberg – und es heißt, einige derjenigen, die damals das Finale der ZEIT DEBATTE und die Deklamationsrede von Rouven erlebt haben, könnten noch heute Sätze aus seiner Rede über die Unschuld des Apfelbaumschützen zitieren. (Vgl. Fall Nr. 1 in dieser Liste von Beispielfällen von dem Turnier.)

Nachdem der Debattierklub Wien die Deklamation bereits bei seiner Weihnachtsfeier ausprobiert hatte wurde zu Ostern ein eigener Deklamationsabend angesetzt. Bei Schnitzel und Bier wurden im Stammlokal des Klubs vor zahlreichen Gästen zwei Deklamationen abgehalten. An dem lustigen und hochinteressanten Abend versuchte zunächst Anklägerin Agnieszka Bibro die Jury davon überzeugen, dass der Staat für Polizisten haften muss, die nicht eingegriffen hatten, als ein Betrunkener ein Café zertrümmerte. Leonhard Weese hatte die Verteidigung übernommen, beide beriefen sich auf ihre jeweilige Interpretation der zentralen Aufgaben des Staates. Im zweiten Fall trat Stefan Zweiker als Ankläger gegen Florian Prischl als Verteidiger an. Im Mittelpunkt Ihres Rechtsstreits stand der Tod eines Mannes in den USA der 1830er Jahre – und die Frage, ob sein Nachbar die Schuld daran trug. Auf der Homepage des DKW finden sich ein Bericht über den Abend sowie die deklamierten Fälle (Fall 1, Fall 2).

Verwendete Literatur:
Wilfried Stroh
„Die Macht der Rede.
Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom“
Ullstein, Berlin 2009
ISBN: 3-550-08753-5
608 S.; € 22,95

Die Deklamation wird auch im bereits auf der Achten Minute rezensierten „Trainingsbuch Rhetorik“ besprochen.

„Die Deklamation ist eine rednerische Übungsform, die einen strittigen Rechtsfall zum Thema hat. Ziel der Deklamation ist die Entscheidung über einen fiktiven Fall mit Hilfe gegebener Rechtsnormen und rechtlichen Grundprinzipien. Vorbild dafür ist nicht das moderne Gerichtswesen. Oberstes Prinzip der Entscheidung über Schuld und Unschuld ist ein rationales Gerechtigkeitsverständnis.“ – So schreibt die Streitkultur Tübingen auf ihrer Homepage über die Deklamation. Dort gibt es ein Deklamationsregelwerk, eine Liste von Beispielfällen und ein komplettes Deklamationspaket zum herunterladen.

Text: Leonhard Weese, Obmann des DKW / glx

Print Friendly, PDF & Email
Schlagworte: , , , , , , ,

2 Kommentare zu “Wien deklamiert”

  1. Florian sagt:

    Wie oft wird denn die Deklamation in VDCH-Land geübt? Macht das irgendein Klub regelmäßig?

  2. Ich freue mich sehr über die Neuigkeiten. Gab es nicht auch in Heidelberg eine Weile lang den ein oder anderen Deklamationsabend?
    Ich kann auf Grund räumlicher Distanz leider nicht mehr für einen deutschen Club sprechen, habe allerdings vor einer ganzen Weile die Deklamation erfolgreich in Übersee etabliert. Meine Public Speaking Studenten halten seit zwei Jahren jedes Semester eine Prüfungsdeklamation am Ende des Kurses – mit viel Erfolg und auch einer ganzen Menge Spaß. Entsprechend habe ich mittlerweile auch eine größere Menge an (über Seneca und PS.-Quintilian hinausgehende, moderne) Deklamationsfälle, die ich im Zweifelsfall gern zur Verfügung stelle.

Kommentare sind geschlossen.

Folge der Achten Minute





RSS Feed Artikel, RSS Feed Kommentare
Hilfe zur Mobilversion

Credits

Powered by WordPress.

Unsere Sponsoren

Hauptsponsor
Medienpartner