Wider das Kompetenzchaos: Rückblick auf ersten Jurier-Think-Tank
Die ersten zehn Minuten waren noch nicht verstrichen, als beim Jurier-Think-Tank klar wurde, wo der Hund begraben liegt. Barbara Schunicht hatte sich als erste Referentin vorgenommen, eine umfassende Problemanalyse des Jurierens zu liefern. Warum, fragte sie etwa, scheitern die „Institutionen“ daran, ausreichend gute Turnierjuroren hervorzubringen? Oftmals fehlten Turnierjuroren praktische Übung und in der Offenen Parlamentarischen Debatte (OPD) die Eichung. Mit „Institutionen“ meinte sie die Debattierclubs vor Ort und den Verband der Debattierclubs an Hochschulen (VDCH). Letzterer, so lautete ihre Schlussfolgerung, hat außer den Jurierseminaren keine wirklichen Steuerungsmöglichkeiten.
Es herrscht Kompetenzchaos
Das von Barbara geschilderte Problem ist nur ein Ausläufer einer grundlegenden Schieflage, die beim Think-Tank diskutiert wurde: Es gibt in der Debattierszene keine Institution, die den Auftrag hat, eine umfassende, einheitliche und nachhaltige Strategie für das Jurieren zu entwickeln. Regelmäßig bemühen sich deshalb Einzelne in Mittwochs-Features auf der Achten Minute darum, auf Probleme aufmerksam zu machen und Lösungsvorschläge zu skizzieren, in der Hoffnung, von den Zuständigen erhört zu werden. Wer der Adressat des Artikels ist, variiert je nach angesprochenem Problem. So ist etwa für Startberechtigungen bei ZEIT DEBATTEN das Chefjuroren-Panel oft der erste Ansprechpartner, grundsätzliche Änderungen der VDCH-Beschlusssammlung hingegen obliegen dessen Mitgliederversammlung (MV). Für alle Angelegenheiten rund um die Freie Debattierliga (FDL) sind entweder die Koordinatoren, die FDL-Clubs oder wiederum die Chefjuroren zuständig. Die Verantwortung für die Jurorenausbildung im gesamten VDCH-Land liegt beim VDCH-Vorstandsbeirat für Jurierseminare. Über Regeländerungen, die die Offene Parlamentarische Debatte (OPD) betreffen, entscheidet deren Regelkommission. Die Besetzung von Chefjuroren-Panels fällt unter die Ausrichterautonomie. In inhaltlichen Fragen wird den ChefjurorInnen der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft eine Steuerungs- und Vorbildfunktion zugesprochen.
Kurz: Es herrscht Kompetenzchaos. Die Liste der zuständigen Ansprechpartner ist lang, die der Baustellen noch länger. Im System klafft eine Lücke, denn es gibt kein Gremium, das Jurierprobleme struktureller und inhaltlicher Art systematisch bespricht und richtungsweisende Entscheidungen trifft oder zumindest Empfehlungen ausspricht.
Think-Tank soll Lücke schließen
Um diese Lücke zu schließen, entwickelten Patrick Ehmann und Daniil Pakhomenko vor Monaten die Idee zum Jurier-Think-Tank, der finanziell durch die Deutsche Debattiergesellschaft (DDG) gefördert wurde. Damit hatten die beiden zum zweiten Mal einen guten Riecher für das, was der Debattierszene fehlt. Sie hatten 2010 schon gemeinsam die Freie Debattierliga ins Leben gerufen. Als amtierender VDCH-Vorstandsbeirat für Jurierqualität griff Daniil zusammen mit Patrick dieses Mal die Idee hinter dem Chefjurorenforum auf, das 2013 beim Saison-Kick-Off des VDCH in Marburg stattgefunden hatte. Dabei waren die anwesenden Chefjuroren der damaligen ZEIT DEBATTEN-Saison zusammengekommen, um gemeinsam Jurierprobleme zu identifizieren und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Die Ergebnisse hatte Andrea Gau anschließend in einem Mittwochs-Feature auf der Achten Minute präsentiert. Die sicherlich bedeutsamste und erfolgreichste Innovation des damaligen Gesprächs war das weitergegebene und teilweise auch digitalisierte Jurorenfeedback; Letzteres hat Lukas Haffert kürzlich in einem Mittwochs-Feature bilanziert.
Der Think-Tank, der ebenfalls in Marburg stattfand und von der dortigen Clubpräsidentin Sabrina Göpel organisiert wurde, sollte eine Weiterentwicklung des damaligen Chefjurorenforums sein. Er unterschied sich vom Forum allerdings darin, dass die Teilnahme am Think-Tank allen Interessierten offenstand. Die Veranstalter hatten vorab in einer Ausschreibung dazu aufgerufen, Abstracts für Vorträge einzureichen. Außerdem konnten sich Hörer anmelden. Insgesamt nahmen rund 25 ReferentInnen und HörerInnen teil, darunter mit Konrad Gütschow auch ein Mitglied der OPD-Regelkommission und mit Alexander Hiller ein Vertreter des VDCH-Vorstandes .
Die Themen der eingereichten Beiträge reichten von Formatfragen (z.B. „Vorschlag zu einer Reform des analytischen Jurier-Ansatzes“) über debattiergesellschaftliche Aspekte (bspw. „Die Bedeutung des Jurierens im deutschen und deutschsprachigen Debattieren“) bis hin zu inhaltlichen Fragen des Jurierens (u.a. „Für wen reden wir? Die Illusion vom normalen Bürger im Debattieren und warum sie reformiert werden muss“), wie der Ablaufplan und das Programm zeigen. Laut den Veranstaltern hatte die Anzahl der eingereichten Beiträge die Anzahl der ursprünglich geplanten Vortragsslots überstiegen. Sie berücksichtigten dennoch alle Beiträge, um in den Think-Tank so viele Impulse wie möglich aufnehmen zu können.
Thematische Vielfalt zugleich Stärke und Schwäche
Die Vorträge und anschließenden Diskussionen ergänzten zwei weitere Formate, zum einen ein historisches Panel, das die Entwicklung des Jurierens besprach. Ihm gehörten mit Bernd Hoefer und Daniel Sommer zwei Debattierer an, die Erfahrungen noch aus den Anfängen der deutschsprachigen Debattierszene beisteuern konnten. Zum anderen gab es am Freitag eine Gruppenarbeitsphase, in der Ideen zur künftigen Entwicklung des Jurierens zusammengetragen wurden. Die TeilnehmerInnen machten eine Bestandsaufnahme: Was an der aktuellen Situation ist gut, was ist schlecht? Die anschließenden Überlegungen waren zukunftsgerichtet und drehten sich darum, wohin sich das Jurieren entwickeln soll und welche Maßnahmen dafür ergriffen werden können. Fünf Ideen, die in einer Abstimmung entweder besonders große Zustimmung erhielten oder als besonders kontrovers bewertet wurden, sollten in einer weiteren Gruppenarbeitsphase diskutiert werden. Dazu zählten etwa ein Kriterienkatalog, der „gutes Jurieren“ definiert, und ein transparentes Feedback-System für Juroren auf Turnieren, das in ein Ranking und somit einen Parallel-Wettbewerb münden könnte.
Was die Stärke des Think-Tanks war, nämlich die Vielfalt der Inhalte, entpuppte sich gleichzeitig als seine Schwäche. Obwohl vier Referenten kurzfristig ausgefallen waren, schlichen sich am Samstag zwei Stunden Verzögerung in den Zeitplan ein. Eine Bündelung der Ergebnisse und die Diskussion konkreter Lösungsvorschläge kamen deshalb recht kurz. Auch die Fortsetzung der am Freitag begonnen Gruppenarbeit musste am Sonntag aus Zeitgründen entfallen.
Den diesjährigen Think-Tank betrachteten deshalb sowohl die Veranstalter als auch die TeilnehmerInnen als einen erfolgreichen ersten Schritt in die richtige Richtung. Er soll im kommenden Jahr wiederholt werden und sich langfristig als offenes Gremium etablieren, in dem alle Interessierten an einem Zukunftskonzept für das Jurieren mitarbeiten können. Daniil kündigte an, den Think-Tank im Falle einer Wiederholung umzugestalten, etwa, indem die Gruppenarbeitsphasen ausgeweitetet werden, um mehr konkrete Ergebnisse zu erarbeiten.
Die Vorträge des Jurier-Think-Tanks sollen demnächst schriftlich veröffentlicht werden. Einzelne Beiträge sollen vorab auf der Achten Minute erscheinen. Alle Vorträge und Diskussionen wurden auf Video aufgenommen und sollen in Kürze auf dem Youtube-Kanal „Jurierqualität“ zu sehen sein, den Daniil Pakhomenko eingerichtet hat. Sein Fazit des Wochenendes steht dort bereits zur Verfügung.
kem/ama