Wer wird Chefjuror? Ein Leitfaden von Sarah Kempf

Datum: 29. Juli 2015
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

Wer endlich einmal Chefjuror (CJ) sein möchte und sich mit Max Raabe fragt, warum kein Schwein ihn anruft, der hätte vor geraumer Zeit einen wertvollen Tipp bekommen könnte. Da plauderte eine Person aus dem Nähkästchen, der man eine beachtliche Karriere im Chefjurieren bescheinigen kann. Wer CJ werden wolle, sagte sie, tue gut daran, sich mit Debattierern aus jungen aufstrebenden Clubs anzufreunden und beim abendlichen Bier seine profunden Jurierkenntnisse auszubreiten. Dann stünden die Chancen gut, CJ zu werden, wenn aus ihnen eines Tages Turnierausrichter würden.

Der Schwank illustriert, dass persönliche Verbindungen CJ-Karrieren beschleunigen und verfestigen können. Wer CJ werden will, dem hilft die Verbundenheit mit Ausrichtern oder anderen CJ, denn häufig fragen Ausrichter lediglich einen oder zwei vertraute CJ an und überlassen es ihnen, das Panel zu vervollständigen. Begehrte CJ, die mehr Anfragen erhalten, als sie positiv beantworten können, empfehlen bei Absagen zudem gern gute Freunde oder Protegés als Ersatz. Dass Beziehungen nur dem schaden, der keine hat, ist weder eine neue, noch eine ausschließlich für das Debattieren geltende Erkenntnis.

Viertelfinaljury der DDM 2015 (c) Henrik Maedler

Viertelfinaljury der DDM 2015 (c) Henrik Maedler

Persönliche Beziehungen sind vermutlich oft, aber nicht immer der Grundstein einer Karriere als CJ. Wie und warum sie andernfalls ihren Anfang nehmen, wissen wir nicht, da in jeder Saison zahllose Ausrichter eigenständig ihre Panels besetzen und ihre Motive nicht erfasst werden. Wer kein Misanthrop ist und annimmt, dass Organisatoren Personen zumindest auch und manchmal sogar ausschließlich wegen ihrer Kompetenz anfragen, steht vor der interessanten Frage, wie die Ausrichter „Kompetenz“ wohl definieren. Fände man darauf eine Antwort, wüsste man, aus welchen Gründen jemand zum ersten Mal eine Chefjuration angetragen bekommt und was später dazu führt, dass er auch von anderen Ausrichtern angefragt wird (denn einmal ist bekanntlich keinmal).

Aufgaben: Mehr als nur Themensetzung

Im Status Quo, so scheint es, machen lang anhaltende Chefjurorenkarrieren insbesondere Personen, die als besonders „analysestarke“ Redner gelten. Dieser Begriff ist nicht klar definiert, deutet aber darauf hin, dass im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass ein CJ die Aufgabe hat, Debatten im Vorfeld sorgfältig zu durchdenken und bei der Jurierung alle relevanten Aspekte zu erfassen. Unterstellt wird, dass jemand, der dazu als Redner in der Lage ist, diese Fähigkeit auch als CJ einbringen kann. Umgekehrt scheint man anzunehmen, dass jemand, der nicht als „analysestarker“ Redner wahrgenommen wird, dem Posten deshalb nicht gerecht werden kann. Das ist problematisch, nicht nur, weil die Zuschreibung der fehlenden Analysestärke falsch sein kann, sondern auch, weil der Aufgabenkatalog eines CJ über diese eine kognitive Leistung hinausgeht, wie später gezeigt werden wird.

Ähnlich verhält es sich mit der Aufgabe der Themensetzung, auf die der Posten nicht selten reduziert wird. Wie Patrick Ehmann beim Jurier-Think-Tank anmerkte, hängt das vermutlich damit zusammen, dass etwa in E-Mails oder Artikeln alternativ zur Formulierung „Chefjuroren sind x, y und z“ gerne „Für die Themen verantwortlich sind x, y und z“ verwendet wird. Dabei werden die zahlreichen Aufgaben auf eine einzige reduziert, bei der zudem die Leistung des Einzelnen im Nachhinein nur selten messbar und deshalb bei der späteren Auswahl von CJ nicht hilfreich ist. Anders gesagt: Wenn ein Ausrichter CJ für sein Turnier nach deren bislang gesetzten Themen auswählen wollte, müsste er darüber nicht nur konsequent Buch führen, sondern der einzelne CJ müsste seine Themen auch als solche kenntlich machen, was im Status Quo selten der Fall ist. Die Frage, wer gute Themen setzen kann, eignet sich deshalb nur bedingt als Hilfe bei der Auswahl. Abgesehen davon gilt auch hier, dass zu den besten CJ der Debattierszene Personen zählen, die sich zwar nicht als kreative Themensteller hervortun, die aber über zahlreiche andere Fähigkeiten verfügen, die sie zu den Besten ihres Fachs machen.

Das führt zu der Frage: Was sind die zahlreichen Aufgaben, die einen CJ erwarten? Immer wieder zeigt sich im Dialog mit Organisatoren eine Ratlosigkeit darüber, wer sich für den Job eignen könnte, den sie zu vergeben haben. Mehr Klarheit darüber, über welche Kompetenzen ein CJ verfügen muss, erleichtert die Suche. Die folgenden Aufgaben muss ein CJ bewältigen (es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben):

  • Break erstellen
  • Feedback geben
  • Jurieren
  • Jurorenbesprechung leiten
  • Juroren setzen
  • Jurorenwerbung
  • Methodische Entscheidungen (Eichdebatte, Mentoringprogramm etc.)
  • Regelerklärung
  • Schaffen von Präzedenzfällen*
  • Tabbing
  • Themen setzen

* Schaffen von Präzedenzfällen: Gemeint ist hier das erstmalige Auftreten bedeutsamer Probleme, die die CJ lösen müssen. Ein Beispiel ist die ZEIT DEBATTE Marburg 2013, bei der die Rednerin eines Teams erkrankte und nach den ersten Vorrunden für den Rest des Turniers ausfiel. Als Rednerin sprang die mitgereiste Jurorin ein. Das betroffene Team bat darum, dass die bis dahin erzielten Punkte ihre Gültigkeit behielten, um weiterhin Chancen auf den Break zu haben. Die CJ lehnten die Forderung mit der Begründung ab, dass sich in der Zukunft Teams unter Berufung auf den Präzedenzfall Vorteile erschleichen könnten, wenn ein erfahrener Redner zunächst Punkte für das Team erarbeitete, die nach einem kurzfristigen Ausfall wegen angeblicher Krankheit dem Ersatzredner zu Gute kämen.

Das Bewerberprofil

Um die Aufgaben bewältigen zu können, müssen CJ nicht nur fachkompetent und regelkundig sein, sondern beispielsweise auch über ein Mindestmaß an „historischem“ Wissen verfügen (was wurde früher schon gemacht und was davon hat funktioniert / nicht funktioniert und warum?) sowie das oft bemühte „Standing“ in der Debattierszene, damit beispielsweise unpopuläre Entscheidungen akzeptiert werden. Zudem sollten CJ selbst noch in der Szene aktiv sein, denn sie entwickelt sich nach wie vor rasant. Das betrifft auch das CJ-Handwerk. Als Gegenbewegung zum Nachwuchsförderwahn, der zwischenzeitlich auszubrechen drohte, scheint es vereinzelt Neigungen zu sehr „konservativ“ besetzten Panels zu geben, also Panels mit ausschließlich Personen, die schon vor Jahren als quasi unfehlbare Juroren galten. Die Mehrheit der sehr erfahrenen CJ befürwortet solche Panels aus dem naheliegenden Grund nicht, dass dabei keine Nachwuchsförderung betrieben wird. Wie eine sinnvolle Nachwuchsförderung aussieht, wurde im Mittwochs-Feature zum Stufen-Modell beschrieben, dessen Fortsetzung dieser Artikel ist. Zur Erinnerung: CJ-Panels sollten, was die Erfahrung der Mitglieder betrifft, heterogen zusammengesetzt sein, zudem ist „Nachwuchs im engeren Sinne“ nicht dem „Nachwuchs im weiteren Sinne“ gleichzusetzen.

Der andere Grund, aus dem die Besetzung mit ausschließlich nicht mehr sonderlich aktiven Debattieren abzulehnen ist, ist die Tatsache, dass Themen heute anders formuliert werden als noch vor einigen Jahren. Wessen regelmäßige Teilnahme an Turnieren schon zwei, drei Jahre zurückliegt, hat zudem oft ein Bild der teilnehmenden Juroren, das überholt ist. Auch sie haben sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt, was allzu schnell übersehen wird, wenn CJ nur einmal pro Jahr an einem Turnier teilnehmen.

Eine weitere Eigenschaft, über die ein CJ verfügen muss, ist die gute Vernetzung in der Debattierszene. Die Jurorenwerbung gilt als eine der wichtigsten der oben genannten Aufgaben, da insbesondere bei kleineren Turnieren die Ausrichter regelmäßig vor dem Problem stehen, dass sich nicht ausreichend Juroren für das Turnier angemeldet haben. Ein guter CJ sollte in der Lage sein, die Ausrichter in solchen Fällen zu unterstützen, indem er erfahrene Juroren durch persönliche Ansprache auch noch kurzfristig zur Teilnahme bewegt.

Aus den oben genannten Aufgaben und Kompetenzen lassen sich Kriterien ableiten, die eine Person erfüllen sollte, die als CJ gesetzt wird. Auch hier gilt, dass es sich um einen ersten Versuch handelt, eine bislang fehlende Orientierungshilfe für Ausrichter zu schaffen. Die Aufstellung erfolgte getreu dem Motto: So viele Vorgaben wie nötig, aber so wenige wie möglich. Der Vorschlag trennt CJ einer ZEIT DEBATTE von CJ der Freien Debattierliga (FDL). Kursiv gesetzte Kriterien können in die Überlegungen einbezogen werden, sollten aber nicht ausschlaggebend sein.

 Kriterien für Chefjuroren

Trotz dieser Orientierungshilfe dürften sich weiterhin einige Organisatoren fragen, wo oder wie sie nun die Personen finden, die diese Anforderungen erfüllen. Anknüpfend an die eingangs erwähnte Anekdote müssen wir uns fragen: Warum muten wir Personen, die CJ werden wollen, eigentlich die Demütigung zu, sich bei Ausrichtern anzubiedern in der Hoffnung, dass eines Tages der ersehnte Anruf mit dem Jobangebot kommt? Wer etwa das Ziel hat, Mitglied des Vorstands des Verband der Debattierclubs an Hochschulen e.V. (VDCH) zu werden, kann sich an einem zumindest inoffiziellen Fahrplan orientieren, der einer erfolgreichen Kandidatur meist vorausgeht: Man übernimmt ein Amt in seinem Debattierclub, wird Cheforganisator eines Turnieres und/oder betätigt sich auf Verbandsebene (Achte Minute, VDCH-Vorstandsbeirat, FDL-Koordinator), bevor man sich schließlich auf eines der vier höchsten Ämter bewirbt und so kenntlich macht, dass man sich für den Job interessiert. Wer hingegen CJ werden will, hat außer einer plumpen Anbiederung keine Möglichkeit, dieses Interesse kundzutun. Eine solche Person kann versuchen, auf Turnieren zu jurieren, um als potenzieller CJ wahrgenommen zu werden, sie kann Seminare besuchen und später hoffen, als Trainer angefragt zu werden (hier gilt dasselbe Problem wie bei den CJ-Posten) – aber sie hat keine Möglichkeit, sich einem offenen, fairen Wettbewerb zu stellen.

Bewerberprofil, aber keine Bewerbung?

Sarah Kempf beim Jurier-Think-Tank (c) D. Pakhomenko

Sarah Kempf beim Jurier-Think-Tank
(c) D. Pakhomenko

Der Ausweg aus diesem Dilemma ist offensichtlich: Die öffentliche Ausschreibung von CJ-Posten. Seit zwei Jahren gibt es immerhin bei der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft (DDM) die Möglichkeit, sich als CJ selbst zu bewerben. Dieses Verfahren hat offensichtliche Vorzüge, allerdings auch zwei Nachteile. Zum einen ist insbesondere im Vorfeld der DDM 2014, bei der es erstmals angewandt wurde, darauf hingewiesen worden, dass es geeignete Kandidaten abschrecken könnte, sich dem Feedback der gesamten Szene aussetzen und eventuell eine öffentliche „Niederlage“ hinnehmen zu müssen. Bei dem bedeutsamsten Turnier der Saison ist das ein Nachteil, der in Kauf genommen werden muss, da das Ziel des Verfahrens ja gerade ist, diejenigen CJ zu finden, die weithin anerkannt sind. Zumindest kann bei anderen Turnieren, denen nicht dieselbe Bedeutung wie der DDM zukommt, die Phase des Feedbacks durch Dritte ausgespart werden. Das zeigt das Beispiel des Debattierclubs Bonn, der in einer E-Mail über den VDCH-Verteiler sämtliche CJ-Posten der Westdeutschen Meisterschaft (WDM) 2016 ausschrieb.

Zum anderen zeichnet sich zwei Jahre nach der Einführung des Verfahrens die Gefahr ab, dass die Revolution ihre Kinder frisst, indem sich einzelne Bewerber für eine Blockbewerbung zusammenschließen. Dahinter stehen der durchaus verständliche Wunsch, in einem Team zusammenzuarbeiten, dessen Beteiligte sich gut miteinander verstehen, aber natürlich auch der Gedanke, dass eine Blockbewerbung die Erfolgschancen gegenüber Einzelbewerbern erhöht. Das ist problematisch, weil auf diese Weise die alte Exklusivität (bessere Chancen für diejenigen, die sehr gute Beziehungen zu den Ausrichtern haben) durch eine neue Exklusivität (bessere Chancen für diejenigen, die sehr gute Beziehungen zu anderen aussichtsreichen Kandidaten haben) ersetzt wird.

Für andere Turniere als die DDM eignet sich daher vermutlich der Mittelweg am Besten, der so ähnlich unter anderem bei der Süddeutschen Meisterschaft 2014 und der Westdeutschen Meisterschaft 2015 beschritten wurde: Dabei wurde jeweils einer der CJ-Posten öffentlich ausgeschrieben, eine Phase öffentlichen Feedbacks gab es nicht. Damals blieb die Möglichkeit der Bewerbung nicht näher definiertem „Nachwuchs“ vorbehalten. Eine solche Einschränkung wird überflüssig, wenn die oben genannten Kriterien angewandt werden, der „Nachwuchs im weiteren Sinne“ (bei ZEIT DEBATTEN) und der „Nachwuchs im engeren Sinne“ (bei FDL-Turnieren) im Sinne des Stufen-Modells erfüllt sie per definitionem. Das Verfahren leistet, dass Personen ins Bewusstsein der Ausrichter rücken, die zuvor nicht im Fokus standen, und gleichzeitig niemand von der Gefahr einer möglichen öffentlichen „Niederlage“ abgeschreckt wird.

Sarah Kempf/ama

Die Vorschläge des vorliegenden Beitrag wurden unter dem Titel „Qualitätsstandards für ein vernachlässigtes Handwerk: Über die Auswahl und Ausbildung von ChefjurorInnen“ erstmals beim Jurier-Think-Tank präsentiert. Die Videos der Vorträge mit anschließenden Diskussionen sowie die ausführlichen schriftlichen Versionen werden auf einem neu eingerichteten Blog und dem dazugehörigen YouTube-Kanal veröffentlicht.

 Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de

Sarah Kempf war Cheforganisatorin der Deutschen Debattiermeisterschaft 2009 und des Gutenberg-Cups 2009 und 2010. Als Chefjurorin trat sie u.a. beim Methusalem-Cup 2014, Gutenberg-Cup 2011 und Streitkultur-Cup 2009 in Erscheinung. Von September 2013 bis August 2014 leitete sie als Chefredakteurin die Achte Minute. In der Amtszeit 2014/15 war sie Vizepräsidentin des Verbandes der Debattierclubs an Hochschulen. Neben ihrem Master-Studium ist sie als Journalistin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig.

 

 

 

 

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1 Kommentare zu “Wer wird Chefjuror? Ein Leitfaden von Sarah Kempf”

  1. Christian Zimpelmann sagt:

    Sarah, danke für diesen wichtigen Artikel!

    Ich denke, wenn man sich die Mühe macht ein Bewerbungsverfahren zu organisieren, kann man auch direkt alle Plätze ausschreiben. Einer „Blockbildung“ kann man ganz einfach aus dem Weg gehen, indem man nur Einzelbewerber zulässt.

    Im Übrigen ist es gerade bei den erfahrensten Chefjuroren manchmal schwer einzuschätzen, wie hoch die Motivation noch ist. Das kann man durch ein Bewerbungsverfahren sehr viel leichter herausfinden.

Kommentare sind geschlossen.

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