Kommentare kommentiert: Der DDM-Leitfaden 2016

Datum: 6. April 2016
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature, Turniere, ZEIT DEBATTE

Wie bereits 2014 bei der letzten Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft im British Parliamentary Style, haben die Chefjuroren auch für dieses Jahr einen Jurierleitfaden veröffentlicht. Es handelt sich um eine modifizierte Version des Vorgängers. Was genau sie dabei betonen möchten, erklären Tobias Kube, Barbara Schunicht und Willy Witthaut im dieswöchigen Mittwochs-Feature.

Gestern haben wir über den VDCH-Verteiler den Leitfaden zur Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2016 versandt. Er soll als Orientierung für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Heidelberg dienen. Dabei fasst er die gängigsten Vorstellungen innerhalb der deutschsprachigen Debattierszene zusammen. Einige Kontroversen und Vorstellungen wollen wir euch mit diesem Mittwochs-Feature präsentieren.

Im Leitfaden beginnen wir bewusst mit einem Vorwort, das einerseits zeigen soll was ein Leitfaden leisten kann aber gleichzeitig auch wo seine Grenzen liegen. In einer relativen Bewertung sind Fehler bzw. Leistungen graduell zueinander zu beurteilen. Sie erlaubt keine mathematischen Formulierungen nach dem Motto „Es passiert x und dies ist mit y zu bewerten“. Vielmehr kann ein Leitfaden nur eine Orientierung bieten, wie in den meisten Fällen vorzugehen ist. Auf Seite 2 ist dies folgendermaßen geschildert:

Eigentlich könnten wir den Leitfaden nach dem Ablauf einer BPS-Debatte mit den Worten „Das Team, das am meisten überzeugt hat, gewinnt“ abschließen. Die Reduzierung der BPS auf diesen Satz ist der Kern des Jurierens. Dennoch wissen wir, dass gerade auf einer Meisterschaft das Bedürfnis besteht, Eichung und Fairness sicherzustellen, sodass jede und jeder mit denselben Chancen auf dem Turnier startet. Mit dem Leitfaden wollen wir einen Schritt in diese Richtung gehen und glauben, die meist-diskutierten Fragen nicht nur anhand unserer persönlichen Meinung, sondern auch an dem, was innerhalb der deutschsprachigen Debattierszene üblich und gängige Praxis ist, beantwortet zu haben.
Dennoch sprechen wir nicht umsonst von der „Kunst“ und nicht dem „Handwerk“ der Überzeugung. Auch wenn es oft in unserer Mentalität liegt, jedes Detail genau geregelt haben zu wollen, sind wir der festen Überzeugung, dass nicht jeder Einzelfall – selbst in einem 100-seitigen Leitfaden – abgedeckt werden könnte. Wir sehen den Leitfaden als Orientierung und nicht als (abschließendes) Regelwerk an, denn letzteres würde unserer Auffassung der BPS als holistisches Gesamtbild, das Platzierungen in Relationen stellt, widersprechen. Eine Regel im Sinne: Es passiert X und dies ist mit Y zu bewerten, wird niemals der Komplexität einer Debatte gerecht.

Neben den bereits heiß diskutierten Fragen „Zwischenrufe“ und „Skala“, die auf der Achten Minute in mehrfacher Form diskutiert wurden, gab es insbesondere drei Themen, die innerhalb des Panels kontrovers diskutiert wurden:

Tobias Kube erklärt die Grundlagen des British Parliamentary Style auf dem Jurierseminar Karlsruhe-Nancy 2014 in Karlsruhe. (c) Johannes Grygier

Tobias Kube erklärt die Grundlagen des British Parliamentary Style auf dem Jurierseminar Karlsruhe-Nancy 2014 in Karlsruhe. © Johannes Grygier

1. Opp-Consistency

Auszug aus Seite 13:
Im Gegensatz zur Regierung, die an Antrag und Prinzipien der Eröffnenden Regierung gebunden ist, darf die Schließende Opposition auch Angriffspunkte wählen, die mit der Argumentationslinie der Eröffnenden Opposition nicht in Einklang zu bringen sind. Sie ist aber dazu angehalten, zu verdeutlichen, warum diese Angriffspunkte im Kontext der Debatte trotz des Widerspruchs zur Eröffnenden Opposition legitim sind.

Für die Opp-Consistency ist uns bewusst, dass in dieser Hinsicht unterschiedliche Ansichten im Rahmen der Debattier-Community bestehen. Wir haben uns nach ernsthafter Diskussion gegen die Normierung einer strikten Pflicht zur Übereinstimmung auf Opp-Seite entschieden und stattdessen die Auslegung der DDM 2014 übernommen. Wir glauben, dass dies immer noch das mehrheitliche Verständnis zumindest der deutschsprachigen Debattierszene widerspiegelt. Wir haben die Anforderungen an einen „zulässigen Dolch“ auf Opp-Seite allerdings gegenüber der DDM 2014 insoweit verschärft, als wir eingefügt haben, dass Teams in der Begründungspflicht stehen, zu zeigen, warum ihre Argumentation legitim im Rahmen der Debatte ist.

Wir glauben, es gibt einfach eine Vielzahl an Fällen in denen die Opposition aus sehr unterschiedlichen Gründen gegen eine konkrete Maßnahme sein kann, ohne dass damit die Dynamik der Debatte gebrochen wird. Hingegen besteht in fast jedem Fall, in dem eine Maßnahme verändert wird (Dolch auf Regierungsseite), ein Problem, da dies die erste Hälfte komplett negieren kann und Problematiken aufwirft, die Debatte an sich zu jurieren.
Wir glauben auch nicht, dass es einen erheblichen Nachteil für die 2. Reg darstellt. Zum einen kann auch diese im Rahmen geschickter Formulierung selbst beim strikten Dolchverbot von einer 1. Reg abweichen – uns sind verschiedene Fälle bekannt, in denen dies von sehr fähigen Jurierpanels gebilligt und teilweise sogar mit ersten Plätzen für die 2. Reg honoriert wurde. Zum anderen glauben wir, dass die 1. Opp der 2. Opp stärker schaden kann, ohne selbst Schaden zu nehmen als dies die 1. Reg gegenüber der 2. Reg könnte, indem sie die Seite der Opposition bewusst so verengt, dass sie (grundsätzlich legitime) Angriffslinien bewusst per Definition ausschließt und damit der 2. Opp den Raum für eine Extension nimmt. Es stellt eine sportliche Unfairness dar, die durch Widerspruch in der hinteren Hälfte ausgeglichen werden kann. Das Verbot von Dolchen, welches vor allem in sportlichen Erwägungen gegenüber der 1. Hälfte, insbesondere der 1. Reg begründet ist, verfehlt in solchen Fällen daher seinen Schutzzweck, wie die Juristen sagen würden.
Wir halten dies auch für die inhaltlich überzeugendere und sportlich fairere Regelung. Ob ein Dolch auf Opp-Seite vorliegt oder nicht, ist in aller Regel eine Frage der Formulierung der Extension und Abgrenzung zur 1. Opp. Wir glauben daher, dass auch die striktere Formulierung im WUDC-Leitfaden Raum für faktische Dolche lässt, wenn man es nur geschickt anstellt. Insoweit glauben wir nicht, dass eine große Regel-Abweichung besteht; wir versuchen vielmehr, diese Realität einzufangen und durch das Begründungserfordernis für die Abweichung klarer jurierbar zu machen.

 

2. Schlechtleistungen

Auszug aus S. 15:
Eine schwerwiegende Verfehlung der Rolle kann der Überzeugungskraft eines Teams schaden. Beispielsweise wird eine Eröffnende Regierung, die in einer Antragsdebatte keinen Antrag stellt und/oder nicht erklärt, warum ihre Maßnahmen gut und effektiv sind, häufig nicht sehr überzeugend wirken.

Auch hier ist uns bewusst, dass es unterschiedliche Auffassungen in der Debattierszene gibt, ob ausschließlich das „netto Gesagte“ für eine Debatte entscheidend sein sollte oder ob es auch Schlechtleistungen geben kann, die reelle Nachteile gleichsam von „Minuspunkten“ bei einem Team begründen können. Auch an dieser Stelle mussten wir uns entscheiden, da die beiden Auffassungen logisch exklusiv sind. Wir sind uns einig, dass wir die letztere Variante für überzeugender halten und glauben, dass dies auch dem mehrheitlichen Konsens im deutschsprachigen Debattieren entspricht.
Wie im Leitfaden ausgeführt, handelt es sich vor allem bei der Frage der Rollenerfüllung natürlich nur um ein Abwägungskriterium unter vielen, ebenso wie z.B. der Interaktion, die insbesondere bei inhaltlichem Gleichstand von Teams debattenentscheidend sein kann. Dies folgt für uns nicht zuletzt aus dem sportlichen Charakter des Debattierens, der für jeden Redner auch eine klare Definition der Rolle vorsieht. Wäre es völlig „egal“, ob er dieser Rolle nachkommt, würde sich die klare Definition der Rolle erübrigen. Ebenso kann eine mangelhafte Interaktion ein Nachteil gegenüber einem Team begründen, das ähnlich guten Inhalt gebracht hat und darüber hinaus auch noch effektiv interagiert hat. Wir glauben auch, dass der Unterschied zur „Netto-Theorie“ in der Praxis gar nicht so groß ist und lediglich Klarheit in Fällen von inhaltlichem (Quasi-)Gleichstand schafft.

 

Jurierung auf der ZEIT DEBATTE Frankfurt © Florian Umscheid

Jurierung auf der ZEIT DEBATTE Frankfurt © Florian Umscheid

3. Dieses Haus glaubt X sollte Y tun.

Eine sehr heiß diskutierte Frage nicht nur im nationalen Raum ist die Frage, wie man mit der oben beschriebenen Formulierung umgehen soll. Ist nur die Sicht des Akteurs X relevant oder ist es legitim auch Argumente zu formulieren, die unabhängig von Akteur X zu einer besseren Welt führen würden? Auch hier gibt es unterschiedliche legitime Auffassungen. Wir als DDM-Chefjury haben uns sehr bewusst dazu entschieden, den Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine klare Definition bzw. Abgrenzung zu geben – auch wenn uns bewusst ist, dass diese in Zukunft ggf. anders definiert werden könnte: Debatten die nur aus Sicht des Akteurs X geführt werden sollen werden als First-Person-Motion debattiert und beginnen mit dem Satz „Dieses Haus als…“. Hingegen sind Debatten, in denen auch Argumente unabhängig von Akteur X zugelassen werden in der obigen Formulierung konzipiert.

Die Abgrenzung ist auf S. 5 beschrieben:

(3) Die First-Person-Motion

First-Person-Motions sind Debatten, die aus der Perspektive eines konkreten Akteurs heraus geführt werden sollen. Diese werden bei der DDM 2016 (und ggf. Regios) strikt mit der Formulierung “DH als …” beginnen, um Unklarheiten vorzubeugen. Ein Beispiel für eine First-Person-Motion ist “Dieses Haus als der Papst würde…”. Die Debatte ist strikt aus der Perspektive des in der Motion genannten Akteurs zu führen. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Person, ein Amt, einen Staat, einen Verbund oder eine Institution. Die Überzeugungskraft der Argumente ist in der Bewertung an diese Perspektive anzupassen. Die Teams müssen erläutern, warum ihre Argumente und Maßnahmen aus der Perspektive des Akteurs heraus plausibel sind. Eine gute First-Person-Motion definiert den Akteur möglichst klar und eindeutig, um seine Perspektive unmissverständlich vorzugeben.

(4) Debatten mit einem spezifischen Akteur, aber unterschiedlichen Perspektiven

In solchen Debatten geht es um die Handlung eines Akteurs, die jedoch aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Debattiert werden nicht die Handlungsmotive, sondern vielmehr die Auswirkungen der Handlungen. Dies können vor allem grundsätzliche und prinzipielle Streitfragen sein, die mit “Dieses Haus glaubt, X sollte Y tun” beginnen. Ein Beispielthema wäre: “DH glaubt, die NATO sollte mit Baschar Al-Assad kooperieren, um den Syrienkrieg zu beenden und den IS zu besiegen.” Anders als bei “echten” First-Person-Motions muss hierbei nicht unbedingt aus der Perspektive des benannten Akteurs argumentiert werden. Vielmehr können auch allgemeine Interessen oder die Interessen anderer Akteure als legitimes Argument angeführt werden. Beispielsweise wäre es in dem Beispielthema ein legitimes Argument für die Regierung, über die Reduzierung von Flüchtlingsströmen nach Europa zu sprechen und hieraus Vorteile für die EU abzuleiten. Wie in jeder Debatte muss natürlich erklärt werden, warum dies ein relevantes Ziel ist oder sein sollte.

 

Bereits in der Erläuterung von Mark zur ZEIT DEBATTE Leipzig wurde deutlich, dass es zum Teil unterschiedliche Auffassungen zwischen verschiedenen Turnieren gibt. Die drei oben beschriebenen Fälle sind ein Auszug aus international und national geführten Debatten. Generell wäre eine Auseinandersetzung mit all diesen Fragen im Detail sehr wünschenswert und jede dieser Fragen würde ein eigenes Mittwochs-Feature verdienen. Wir glauben, dass ein allgemeiner Prozess, der die Fragen als Debattierszene im Ganzen beantwortet, hilfreich wäre. Auch der Think-Tank wäre ein Ort, diese Fragen ausgiebig und im nötigen Detail (und auch bezogen auf Auswirkungen) zu behandeln.

Wir haben dieses Jahr bewusst die Regio-Chefjuroren mit in den Prozess eingebunden, um zumindest einen Schritt in diese Richtung zu gehen. Sie hatten dabei die Möglichkeit, über einen mehrwöchigen Prozess Fragen, Ratschläge und Anmerkungen zum Leitfaden einzusenden. Diese wurden zum Teil übernommen, zum Teil lange und ausgiebig diskutiert aber auch zum Teil abgelehnt – sei es aus pragmatischen Gründen oder aus der Idee heraus, dass es die Aufgabe bei den Meisterschaften ist, die Entwicklungen der deutschsprachigen Debattierszene bestmöglich abzubilden, um ein gutes und fair juriertes Turnier zu garantieren.

Wir wünschen euch viel Spaß und Erfolg bei der DDM 2016 in Heidelberg und freuen uns, mit euch ein tolles Turnier zu erleben. Als Chefjury sind wir bei sportlichen Fragen natürlich jederzeit für euch ansprechbar. Unter der Mail-Adresse chefjury-ddm [at] zeitdebatten [dot] de erreicht ihr uns alle drei direkt. Nun viel Spaß bei der Vorbereitung und der wahrscheinlich aufkommenden Diskussion!

Tobias Kube/Barbara Schunicht/Willy Witthaut/lok

Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Tobias Kube begann Ende 2010 im beim Brüder Grimm-Debattierclub Marburg zu debattieren. Er gewann unter anderem den Streitkultur-Cup 2013 und 2015 sowie den Brüder Grimm Cup 2014. 2012 erhielt er den Nachwuchspreis der Deutschen Debattiergesellschaft e.V. (DDG). Er war Präsident seines Clubs von 2011-2013 sowie von 2013-2015 Mitglied im Vorstand des VDCH, davon ab 2014 als dessen Präsident. Derzeit promoviert er in Psychologie.

Barbara Schunicht ist Vorstandsbeirätin des Verbandes der Debattierclubs an Hochschulen e.V. für Jurierqualität. Sie war u.a. Chefjurorin der ZEIT DEBATTE Hannover 2015, der Nordostdeutschen Meisterschaft 2015 und des Boddencups 2014. Sie war Deutsche Vizemeisterin im Debattieren 2012 und Finalistin weiterer Turniere, u.a. der ZEIT DEBATTE Heidelberg 2014. 2014 gewann sie das Ironmanturnier.

Willy Witthaut war Chefjuror der ZEIT DEBATTEN Heidelberg 2014, Mainz 2014 und Hamburg 2013, der Westdeutschen Meisterschaft 2013 sowie zahlreichen Turnieren der Freien Debattierliga. Er ist Deutschsprachiger Vizemeister 2014 und Sieger mehrerer Turniere, darunter die ZEIT DEBATTEN Dresden 2014 und Magdeburg 2012. In der Amtszeit 2011/2012 war er Präsident des Debattierclubs Johannes Gutenberg e.V. Mainz. 2014/2015 war er für den Bereich Equity und Fairness Vorstandsbeirat des Verbandes der Debattierclubs an Hochschulen e.V. Derzeit studiert er Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

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9 Kommentare zu “Kommentare kommentiert: Der DDM-Leitfaden 2016”

  1. Lennart Lokstein sagt:

    Hallo zusammen! Mir ist leider nach der Lektüre noch folgendes unklar:
    1. Stichwort „Opp-Consistency“: Wenn ich nun erklären muss, warum mein Argument legitim ist, kann das häufig gleichbedeutend sein mit „ich muss das andere Team erstmal rebuttaln“, nämlich immer dann, wenn die Oppositionsteams verschiedene Ziele proklamieren (was oft vorkommt). Das kann dazu führen, dass eine mögliche (und auch potenziell sinnvolle) Opp-Linie von 3 Teams rebuttalt wird, da die SO eine andere (ebenfalls potenziell sinnvolle) Linie fahren möchte. Ich finde das – und habe es in Berlin aus dieser Position erlebt – ziemlich unfair gegenüber dem EO-Team. Da wäre es zumindest noch etwas besser, das SO-Team würde einfach etwas anderes tun, ohne vorher nun auch noch explizit rebuttaln zu müssen.

    2. Stichwort Regierung: Das Problem hier scheint ja das Einführen neuer Anträge/Modelle zu sein. Was ist nun aber, wenn der Antrag der ER etwas anderes bewirken würde, als das, was sie glauben. Ist es ein Dolch, hier als SR klarzustellen, wie der Mechanismus des gestellten Antrags wirklich funktioniert, auch wenn das zu einem anderen Ziel führt als dem von der ER gewünschtem und darf man als SR dann dieses Ziel neu proklamieren? Da auch das häufig vorkommt wäre hier die Regelsicherheit aus meiner Sicht noch ausbaubar.

    3. Wenn ein Team eine recht gute und eine im Grunde überflüssige Rede hält, z.B. ein schließendes Team eine geniale Extension hat aber eine schlechte Schlussrede, die Extension aber die Debatte knapp gewinnt vor einem gleichmäßigerem Team – wie sollen dann Einzelrednerpunkte vergeben werden? Angenommen, das zweite Team wäre von der Leistung her gefühlt etwa eine 76-76, das erste mehr eine 78-70. Nun hat man drei Optionen: Den guten Redner von Team A übermäßig hoch bepunkten, den schlechten Redner von Team A übermäßig hoch bepunkten oder aber Team B übermäßig schlecht bepunkten. Welches vorgehen sollen Juroren in diesem Fall anwenden? Das ist deshalb relevant, weil Speaks nicht relativ im Raum, sondern absolut auf dem Turnier vergeben werden, also im Prinzip wie bei OPD im Bezug auf Speaks mit sämtlichen Räumen konkurriert wird und es daher unfair für entweder alle Teams in anderen Räumen wäre, hochzugehen, oder unfair gegenüber Team B im vergleich zu allen anderen Teams, wenn diese niedriger kämen.

    4. Gibt es einen argumentativen Unterschied zwischen „DHW X“ und „DHG, Y sollte X“ oder ist im letzteren Fall lediglich ein Teil des Antrags, nämlich der ausführende Akteur vorgegeben?

    5. Sehr schöner Absatz zu Zwischenrufen. 😉

  2. Barbara (HH) sagt:

    Lieber Lennart,

    gerne versuche ich – in Absprache mit Willy und Tobi – noch etwas mehr Klarheit zu schaffen:

    zu 1.: Wir glauben nicht, dass das Plausibel-Machen einer eigenen Linie in der SO häufig mit einem zwingenden Rebuttal auf die EO verbunden ist. Oft dürfte es auch genügen, diese „einfach so stehen zu lassen“ und zu begründen, warum auch die eigene Linie legitim ist bzw. eine Selbst-Wenn Betrachtung oder eine Unterteilung in eine kurz- und langfristige Perspektive anzustellen. Eben deshalb lässt sich dem Leitfaden auch keine „Pflicht zu einem expliziten Rebuttal“ entnehmen.
    Selbst wenn es im Einzelfall zu einem direkten Rebuttal der SO auf die EO kommen sollte (ohne dass die Debatte dadurch vollkommen konfus wird und die SO sich dadurch selbst schadet), glauben wir nicht, dass das unfair gegenüber dem EO-Team wäre. Immerhin kann sich dieses damit auch als sehr relevant und bestimmend in der Debatte erweisen. Ein gutes und gut gemachtes Argument wird nicht dadurch schlechter, dass sich mehr Personen mit ihm auseinander setzen.

    Zu 2.: Ein Dolch liegt insbesondere dann vor, wenn sich die SR in expliziten Widerspruch zu den Prämissen, Werte und Mechanismen der ER setzt. Insofern kommt es in dem von dir geschilderten Fall vor allem darauf an, wie die SR konkret mit der Situation umgeht. Wenn sie alles, was in der ersten Hälfte gesagt wurde, komplett verwirft und für irrelevant erklärt, wird dies wahrscheinlich ein Dolch sein. Wenn sie dagegen vorsichtiger formuliert, dass es auch alternative Auswirkungen des Antrags geben könnte, die sie aus den nachfolgenden Gründen unterstützt, kann dies auch völlig ok sein. Wahrscheinlich ist das nicht die endgültige, definitive Antwort, die du dir erhoffst. Wie wir im Vorwort geschrieben haben, kann ein Leitfaden aber eben leider nur Leitlinien aufstellen und nicht jeden Einzelfall regeln. Daher können wir hier leider nur diese abstrakte Regel anbieten und anwenden.

    Zu 3. Die Einzelrednerpunkte sollen entsprechend der einzelrednerischen Leistung vergeben werden, so wie dies ausführlich im Leitfaden beschrieben ist.  In deinem Beispiel solltest du also überprüfen, ob 78 wirklich eine angemesse Punktzahl für eine „geniale Extension“ und 70 eine angemessene Punktzahl für eine „im Grund überflüssige Rede“ ist. Auch müsstest du prüfen, ob das andere Team tatsächlich eine Leistung erbracht hat, die jeweils 76 Punkten entspricht. Hieraus könnte sich eine andere Verteilung der Punkte ergeben, die das Ranking der Teams (A vor B) dann auch widerspiegelt.
    Solltest du alle Einzelrednerpunkte für so angemessen erachten, spricht einiges dafür, dass das Ranking der Teams nicht korrekt vorgenommen wurde, indem sich Team B eigentlich knapp vor Team A hätte befinden müssen und in der Abwägung der Teams miteinander z.B. die Schwäche der Schlussrede nicht angemessen berücksichtigt wurde.
    Natürlich ist es bei einem so abstrakten Beispiel aber sehr schwierig, das an dieser Stelle genau festzustellen.

    Zu 4.: Zu dieser Frage lassen sich sicherlich tiefgehende philosophische und wissenschaftliche Überlegungen anstellen. Für die Jurierpraxis relevant ist sicherlich zunächst der Unterschied, dass in „DHG, Y sollte X“ ein Akteur angegeben ist, in „DHW X“ indes nicht, was natürlich einen gewissen argumentativen Unterschied macht (wie auch im Leitfaden gesagt).
    Wie konkret die Maßnahme und der Mechanismus in der Debatte dann jeweils beschrieben werden und ob die Maßnahme in „DHG, Y sollte X“ auch als Antrag bezeichnet wird, ist vor allem eine Entscheidung der ER. Es bleibt die Aufgabe der Teams, in der Debatte überzeugend für oder gegen die Maßnahme zu argumentieren. Von daher sollte es praktisch keinen großen, verallgemeinerbaren Unterschied machen, auch wenn es sich um eine theoretisch durchaus spannende Frage handeln kann. Letztendlich hängt es vom jeweiligen konkreten Thema ab und wie überzeugend die Teams mit ihm umgehen.

    Beste Grüße,
    das CJ-Team

  3. Lennart Lokstein sagt:

    Hallo liebe CJ,
    danke für die Antworten. Gewisse Dinge sind mir allerdings immer noch unklar, zu 1. und zu 3.:

    1. Bezogen auf den Fall, den ich angesprochen habe (explizites Rebuttal ist notwendig, da z.B. exklusiv anderes Ziel): Ich halte es schon für problematisch, wenn 3 Teams ein anderes rebuttaln, das mit einem davon nicht einmal interagieren kann. In einem ausgewogenem Thema – und solche zu stellen unterstelle ich euch hier mal 😉 – ist jedes Argument zumindest zu einem gewissen Grad widerlegbar bzw. reduzierbar. Wenn drei Teams das eigene Argument kleiner machen, ist das bei ähnlich guten Argumenten im Zweifelsfall ein Nachteil. Gutes Rebuttal nimmt einem rebuttalten Team nunmal schlicht mehr, als es ihm an „Interaktion“ oder „Aufmerksamkeit“ wieder einbringt, da sein Beitrag für die Debatte insgesamt doch eher relativiert wird (ansonsten hätte man systemisch auch keinerlei Anreiz, ein stärkeres Team zu rebuttaln). Ich denke, auch über diesen Fall sollte man reden und nicht aufgrund der „Seltenheit“ ausklammern. Wenn sich keine Lösung innerhalb des Systems finden lässt und man dennoch Opp-Backstabbing erlauben möchte, würde ich vorschlagen, zumindest auf diesen hinzuweisen und das Bewusstsein der Juroren dafür zu schärfen, dass ein Team besonders sorgfältig zu bewerten ist, wenn es dreifach rebuttalt wurde.

    3. Das liest sich alles in der Theorie schön, aber der Reality-Check sagt, dass diese Situation vorkommt. Grund dafür dürfte insbesondere sein, dass wir in BPS nunmal relative Leistung als primäres Bewertungskriterium haben und keine absoluten Kriterien, wie sie der Katalog vorgibt (d.h. Katalog und relative Bewertung kommen zwar tendenziell zu gleichen Ergebnissen, jedoch nicht zwingend). Wenn also im seltenen Fall (der doch pro Turnier auf dem man juriert gefühlt einmal auftritt) die relative Leistung nicht im Verhältnis steht zu den absoluten Vorgaben, müssen wir uns schon an die primäre Bewertung halten und diese nicht, wie vorgeschlagen, anhand der sekundären Bewertung korrigieren. Dann könnten wir nämlich gleich absolut bepunkten.. Die Frage ist nun, wer unter der Asymmetrie leiden soll: Soll das 1. Team etwas besser bepunktet werden, als es war, oder das 2. Team schlechter, als es war? Ich würde mich hier über eine klare Ansage für den genau beschriebenen Fall freuen. Dass ich alles sorgfältig prüfen sollte, war mir tatsächlich schon vorher klar. 😉

  4. Manuel J. A. sagt:

    Ist das jetzt wieder das Missverständnis, dass Rebuttal die Leistung des angegriffenen Teams schmälert?
    https://www.achteminute.de/20130731/sandburgen-und-relativitatstheorie-im-british-parliamentary-debating/

  5. Lennart Lokstein sagt:

    Mitnichten. Aber möglicherweise wird der Juror ein Argument einfach nachträglich weniger hoch kreditieren, wenn z.B. dessen Relevanz rebuttalt wurde und der Juror diese vorher etwas höher eingestuft hatte. Je mehr Leute dir sagen, dass etwas unplausibel ist – selbst wenn sie es überhaupt nicht begründen – desto stärker wird auch dein eigener Glaube daran mit abgetragen. Rebuttal schmälert daher nicht die tatsächliche, sondern die empfundene Leistung.

  6. Konrad (Tübingen) sagt:

    Ich glaube der Sandburgenartikel hat einen wichtigen, richtigen Grundgedanken, vereinfacht aber zu stark. Rebuttal funktioniert allgemein auf zwei verschiedene Arten. Argumente können entweder zerstört/abgeschwächt (Logikfehler aufdecken) oder negiert werden (Mechanismus dagegensetzen).

    Ein Beispiel wäre:
    Zerstören:
    Argument: Viele Leute nehmen auf Techno Partys Drogen. Techno fördert Drogen und sollte verboten werden.
    Rebuttal: Korrelation ist nicht gleich Kausalität. Logikfehler

    Negieren:
    Argument: Wenn Drogen für Erwachsene legal sind, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch jüngere Kinder es einmal bei ihren älteren Geschwistern probieren dürfen, und dann auch abhängig werden. –> Mehr Kinder nehmen Drogen.
    Rebuttal: Wenn Drogen legal sind, eignen sie sich nicht mehr so gut zur Rebellion und als Abgrenzung zu den Eltern. Der Reiz des Verbotenen entfällt. –> weniger Kinder nehmen Drogen.

    In diesem Fall wird ein Argument, welches die gleiche Frage (Clash) (führt eine Drogenlegalisierung zu mehr Kinderkonsumenten) entgegengesetzt beantwortet, benutzt, um das erste Argument zu entkräften. Dadurch steht das Argument der Gegenseite zwar immer noch, die Streitfrage geht allerdings an keine der Seiten.

    Zwischen guten Teams sollte es primär zum 2. Fall kommen. Grundlegende Thesen werden in der plausibilität nur abgeschwächt und eigene Argumentation zum Clash wird dagegengesetzt.
    Beim 1. Fall sollten die Juroren das Argument von Anfang an nicht werten, denn es ist fehlerhaft. Wenn ich einem Team allerdings zunächst glaube, mir dann ein anderes Team aber aufzeigen kann, dass das Argument falsch ist, kann ich es aus der Wertung nehmen. Denn eigentlich hat es niemals existiert. Dies kann öfter vorkommen und hat daher einen Einfluss auf die empfundene Leistung des rebuttalten Teams.
    Kombiniert mit der präzisierung in Lennarts späteren Kommentar sehe ich durchaus eine mögliche Problematik, wenn ein Team mehr rebuttalt wird.

  7. Konrad (Tübingen) sagt:

    Ich freue mich übrigens über jegliche Kommentare zu meinem Kommentar eben. Das sollte man wahrscheinlich noch viel klarer ausdifferenzieren und vor allem klarer benennen.
    Die Begriffe Mechanismus, Argument, Streitfrage und Clash werden mMn etwas zu beliebig benutzt.
    Eine Klärung der Begriffe würde vielen Leuten beim Verständnis von Debatten helfen. Worte strukturieren das Denken 🙂

  8. Jonathan Scholbach sagt:

    @Konrad: Über einen ausführlichen Artikel von Dir mit Beispielen, der eine saubere Differenzierung dieser Begriffe leistet, würde ich mich sehr freuen.

  9. Lennart Lokstein sagt:

    Die Chefredaktion würde das begrüßen. 😉

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