Sandburgen- und Relativitätstheorie im British Parliamentary Debating

Datum: 31. Juli 2013
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

Manchmal hört man Sätze wie „Bei denen stand am Ende einfach mehr“ als Begründung für den Sieg eines Teams über ein anderes. Ist das eine legitime Begründung? Nein. Das Problem dabei: Hinter diesem Satz kann leicht ein falscher relativer Maßstab der Entscheidung stecken.

Zu oft wird BP-Debating mit kriegerischem Sandburgenbauen verglichen: Die Teams versuchen, möglichst gewaltig zu bauen und möglichst viel vom gegnerischen Bauwerk zu zerstören. Wer am Ende die größte Burg hat, gewinnt. Dass man so nicht jurieren sollte, zeigt folgendes Beispiel[1]:

1. Regierung:

Arbeitet solide, baut eine ganz hübsche Burg.

1. Opposition:

Wartet mit unfassbar starken Argumenten auf und lässt von der ersten Regierungsburg bestenfalls Teile des Kellers übrig.

2. Regierung:

Findet noch eine kleine Erweiterung, fasst einigermaßen zusammen, reicht aber weder in Relevanz noch in Argumentation an die 1. Regierung heran.

2. Opposition:

Bringt gar nichts, hat kein erkennbares Argument und verzichtet vollends auf Angriffe gegen die Regierungsburg.

Nun ist klar, dass Platz 1 an die 1. Opposition geht und deren schließende Kollegen ohne Punkt vom Platz gehen. Aber wie vergleicht man die Regierungsteams? Nach der Sandburgdoktrin schlägt die 2. Regierung die 1., weil alles, was hinten gemacht wurde, „am Ende noch stand“. Aber das kann ja nun keine faire Bewertung sein, da die 1. Regierung ihre Sache (für den Antrag streiten) deutlich besser gemacht hat als die 2. Regierung. Das soll heißen: Die 1. Regierung darf für ihre Niederlage gegen die 1. Opposition nicht härter bestraft werden als dadurch, dass sie gegen die 1. Opposition verliert. Und die 2. Regierung darf nicht von der Stärke der 1. Opposition profitieren, was sie beim Sandburgenjurieren aber täte.

Intuitiv, und auch gemäß WUDC-Briefing[2], wird also das absolut stärkere Team auf Platz 2 gesetzt und nicht das relativ zu seinem zufällig ausgewählten Gegenüber stärkere. Die Juroren prüfen hier auf Relevanz und Robustheit der jeweiligen Beiträge, entscheiden also vergleichend nach einem absoluten Maßstab – und eben nicht danach, was am Ende übrig war.

Ein Vorschlag

Ich schlage vor, analytisch nach Seiten und Teams zu trennen. Denn es ist zunächst einmal völlig richtig, dass Debatten zwischen Pro und Contra nach dem Sandburgprinzip verlaufen: Argumente werden Rede für Rede aufgebaut und abgeräumt. Diese Beobachtung hilft aber nun wenig dabei, den absoluten Beitrag der Teams zu würdigen. Nehmen wir zwei Fußballspiele als Analogie: Das eine endet 2:1, das andere 3:2. Welches war für die Zuschauer attraktiver? Unklar. Denn auf welchem spielerischen Niveau sich beide Seiten weitgehend neutralisiert haben, ist am Ergebnis nicht abzulesen. Für den Vergleich der Teams auf der Suche nach einem Sieger ist das egal.

Eine Debatte verläuft ebenso. Sie ist ein Vergleich von Alternativen. Die Regierung will X; die Opposition muss zeigen, dass irgendein Y, das mit X nicht vereinbar ist, besser ist. Dieses Y kann eine alternative Maßnahme zur Problemlösung sein, oder aber auch Nichtstun (Y={}). Denn wenn X die Welt schlechter macht, ist Nichtstun besser. Meistens wird die Opposition die Linie vertreten, dass X die Welt schlechter macht, manchmal trotzdem eine alternative Maßnahme vorschlagen, um den relativen Abstand in Sachen Weltoptimierung noch zu erhöhen. Die gesamte Argumentation in einer Debatte ist nun auf den Vergleich gerichtet: X>Y oder X<Y?

Zu den Teams … 

001

BP Debatten: Friede den Hütten, Krieg den Sandburgen sagt Manuel Adams (c) Manuel Adams

Nun kommen wir zu den Teams, von denen wir ja zwei auf jeder Seite haben, die ebenso in Konkurrenz miteinander stehen wie mit den übrigen beiden. Die Frage lautet: Welches Team hat den größten Beitrag zur Stärkung der jeweils eigenen Seite gebracht, also am meisten absoluten Credit gesammelt? Man unterscheidet grob zwei Arten von Beiträgen, aus denen ein Team via Mehrwehrt für die Seite Credit für sich generieren kann: Rebuttal (definiert als Verkleinerung des Wertes der Gegenseite) und „eigene Punkte“, „constructive material“ oder wie immer man es nennen möchte (Erhöhung des Wertes der eigenen Seite).

Aus der Logik, die uns zur „richtigen“ Bewertung der obigen Beispieldebatte geführt hat, ergibt sich folgende Erkenntnis: Der Credit eines Teams kann von anderen Teams nicht reduziert werden – weder durch Attacken der anderen Seite, noch durch Eseleien des anderen Teams auf der eigenen Seite. Die Teams der anderen Seite können durch ihre Angriffe nur Credit für sich selbst gewinnen und, wenn sie das und anderes gut genug tun, dadurch das angegriffene Team schlagen. Könnte Credit von anderen Teams abgebaut werden, könnte dies dazu führen, dass das angegriffene Team plötzlich auch gegen Teams verliert, die gar nicht so gut waren. Im Beispiel kann die 1. Opposition eben nicht den Credit der 1. Regierung zerstören und dieser, zugunsten der 2. Regierung, Platz 2 nehmen.

Das bedeutet auch: Was die schließenden Teams tun, darf auf den Vergleich der vorderen Teams keinen Einfluss haben. Schlägt etwa die 2. Opposition effektiv gegen die Argumente der 1. Regierung, nützt das der 2. Opposition, weil sie damit im Vergleich der zur Wahl stehenden Alternativen das Angebot der Regierung schwächt, einen Mehrwert für die eigene Seite schafft und somit in den Köpfen der Juroren Credit sammelt. Für die Chance der 1. Regierung im Duell gegen die 1. Opposition ist das aber egal – ebenso wie ein Eigentor einer schließenden Fraktion sich nicht negativ auf deren vordere Kollegen auswirkt. Würde man das Abräumen der 1. Regierung durch die 2. Opposition als Vorteil für die 1. Opposition jurieren, wäre das Konkurrenzverhältnis auf der Oppositionsseite aufgehoben. Es gilt aber: Nur wer das Tor schießt, kann auch davon profitieren.

Wie zu jurieren wäre … 

Die Juroren schauen sich also den Beitrag jedes Redners an, prüfen ihn auf Mehrwert für die entsprechende Seite und geben dem entsprechenden Team den entsprechenden Credit für die erbrachte Leistung. Credit gibt es für alles, was im Rahmen der vorgeschriebenen Rollenerfüllung den relativen Wert der jeweiligen Seite erhöht: Relevanz, Verständlichkeit, Anschaulichkeit, logische Stringenz, analytische Breite und Tiefe, und so weiter.

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BP-Teams: Oft schwer gegeneinander abzugrenzen (c) Manuel Adams

Die Einschränkung der Rollenerfüllung kann dabei lästig sein, etwa wenn ein Schlussredner ein brillantes neues Argument präsentiert, man dieses aber leider ignorieren muss.[3] Für dumpfes Wiederholen ohne Mehrwert gibt es ebenfalls keinen Credit; und auch die Schlussredner müssen mehr durch Kontextualisierung, Vergleich und Nachweis von Relevanz denn durch Wiederholung Mehrwert schaffen.

Und hier wird deutlich, dass die Menge an Credit die ein Redner aus seinem Beitrag generieren kann, doch zutiefst abhängig vom Rest der Debatte ist. Credit als absoluter Maßstab bedeutet nämlich nicht Jurieren der Teams im luftleeren Raum. Was relevant ist, mehr oder weniger dringend einer Antwort bedarf, noch gesagt werden kann, etc., hängt sehr stark von den Gegnern ab. Das zeigt sich am Beispiel der Zwischenfragen: In Formaten, in denen Punkte addiert werden ohne Teams zu vergleichen, hat der Redner einen starken Anreiz, die Frage des vermeintlich schwächsten Debattierers der Gegenseite anzunehmen. Er kann dann mit höherer Wahrscheinlichkeit souverän antworten und die Gegner erhalten weniger Punkte für ihre Fragen. Im British Parliamentary Style lohnt, je nach Selbsteinschätzung, auch der Griff nach voraussichtlich schwierigen Fragen. Denn eine solche gibt dem Redner unter anderem die Möglichkeit, in der für die Frage und deren Beantwortung aufgewandten Zeit einen relevanten und seine Seite absichernden Beitrag zu machen.

In dem hier dargestellten Bewertungsschema konkurrieren also Teams, die durch Rebuttal und eigene Punkte Mehrwehrt für ihre jeweilige Seite schaffen und dadurch Credit verdienen, der am Ende verglichen wird. Mit dieser Herangehensweise bewahrt man das Konkurrenzverhältnis, das zwischen allen Teams gleich sein soll und vermeidet paradoxe Resultate. Und auch wenn am Ende bei allen Teams „nichts mehr stehen geblieben ist“, kann es trotzdem eine großartige Debatte gewesen sein.

Text: Manuel Adams (mit Dank an Sam Block für dessen Input)

Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: jeden Mittwoch ab 9.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Der Autor: Manuel Adams studiert in Bremen und hat dort die Hanse Debating Union gegründet. Er ist Jurorennachwuchspreisträger 2010 sowie u.a. ZEIT-DEBATTEN-Sieger, -Finalist, –Finaljuror und -Tabmaster.


[1] in Anlehnung an die drittletzte Frage aus dem Jurorentest der WUDC 2012 in Manila

[2] siehe Juroren-Briefing der WUDC 2013, Seite 6, „Comparing contributions“

[3] Die genaue Definition der Rollenerfüllung ist umstritten. Manchen Juroren ist es beispielsweise egal, ob beide Redner einer eröffnenden Fraktion Mehrwehrt beisteuern, während es andere eben negativ beurteilen, wenn ein Redner viel „tote Redezeit“ hat. Erstere würden auch durch Nichtssagen induzierte teaminterne Creditreduktion ausschließen, während letztere inhaltliche Leere auf einer der beiden Rednerpositionen als Schwächung der Schlagkraft des Teams wahrnehmen. Der internationale Mainstream scheint (leider) recht konsequent erstere Variante zu vertreten – nach dem Motto: Wenn dein Partner die Debatte schon gewonnen hat, versuche einfach nur nichts kaputt zu machen.

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4 Kommentare zu “Sandburgen- und Relativitätstheorie im British Parliamentary Debating”

  1. Daniil sagt:

    ..wenn ich das nächste mal erklären muss, was debattieren ist, werde ich sagen: „beim debattieren richten wir die gesamte argumentation auf den vergleich: X>Y oder X<Y?". 😉

  2. Andreas P (Wien) sagt:

    Schöner Artikel.

    Ich fände es schön, wenn mehr Leute versuchten, nach Clashes zu jurieren. Solange es die Debatte zulässt.

  3. Manuel A. (HB) sagt:

    Andreas,
    da braucht es natürlich den Warnhinweis: Dass ein Team von allen anderen ignoriert wird, bedeutet nicht, dass irrelevant war. Aber an sich bedeutet dieses „nach Clashes jurieren“ ja nur, dass man danach schaut, wer das Relevanteste am besten gemeistert hat. Und wenn das dann auch im Feedback durchkommt, ist das in der Tat schön.

  4. Andreas P (Wien) sagt:

    Okay, um relevant zu sein, muss es nicht von den anderen aufgegriffen worden sein, und um relevant zu sein, reicht es auch nicht einfach, von den anderen aufgegriffen zu werden. Da verstehen wir uns. 🙂

Kommentare sind geschlossen.

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