Der strittige Umgang mit dem Strittigkeitsgefälle

Datum: 3. August 2016
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

Welche Fragen sollten in Debatten dringender behandelt werden – allgemeine Grundlagen oder spezifische Fälle? Willy Witthaut stellt eine interessante Problematik in der Jurierung vor die Community.

1. Das Problem

Während des letzten Jahres bin ich auf ein logisches Problem in einer BP-Jurierung gestoßen, dessen Auflösung vielleicht gar nicht möglich ist, dennoch thematisiert werden sollte. Dabei handelt es sich im Grunde um das, was in OPD als „Missachtung des Strittigkeitsgefälle“ bezeichnet wird. Ich würde mich sehr über verschiedene Ansichten und Erklärungsansätze freuen!

Um das Problem bestmöglich aufzuzeigen, werde ich mit einem Beispiel arbeiten (das mir ungefähr so unterlaufen ist) und dabei einige idealisierte Annahmen tätigen, damit allein die Konstruktion des Argumentes kontextunabhängig überprüft werden kann:

  1. Es werden ausschließlich die Eröffnende Regierung (künftig ER) und die Schließende Regierung (künftig SR) miteinander verglichen, unabhängig von den Oppositionsteams.
  2. Die Argumentationsleistungen von ER und SR sind exakt gleich
  3. Interaktionen zwischen ER und SR werden ignoriert
  4. Dolche werden ignoriert bzw. sind in diesem Fall ohne Konsequenzen zu versehen

Das Beispiel-Thema lautet: DHG, Tierquälerei in der Kunst ist legitim. (vgl. Finale Berlin IV 2011)

(Zur Einordnung: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tierversuch-kuenstler-laesst-hund-verhungern-a-512799.html)

Jurieren: Notizen auf der DDM 2014 - © Julia Suessmann

Jurieren: Notizen auf der DDM 2014 – © Julia Suessmann

ER argumentiert, dass man über Kunstaktionen, die Tierquälerei beinhalten, Menschen überhaupt erst dazu bringen könne, über Tierleid nachzudenken, um so die Situation für Tiere im Allgemeinen zu verbessern. Kunstaktionen seien besonders aufmerksamkeitserregend und somit gut geeignet über Provokation / Übertreibung etc. Menschen zum Nachdenken und damit zu einem anderen Handeln anzuregen.

SR argumentiert, dass Tierquälerei immer legitim sei, da Tiere keine Rechte besitzen, der Mensch Tiere nach Belieben kontrollieren könne, etc. Wenn dieses stimme, dürfe auch die Kunstfreiheit nicht durch Tiere eingeschränkt werden.

Beide Teams setzen nicht nur andere Schwerpunkte bzw. verfolgen unterschiedliche Strategien, sondern beantworten komplett andere Streitfragen, die dennoch beide zum gleichen Ergebnis führen können: ER fragt, ob Tierquälerei in der Kunst legitim sei während SR fragt, ob Tierquälerei immer legitim sei. Wie ist also in der Jurierung vorzugehen, wenn die o.g. Annahmen angewendet werden?

Eine logische Antwort findet man darauf nicht unbedingt. Beides sind Strategien, die am Ende die Frage eindeutig beantworten können und dennoch bin ich überzeugt, dass die Mehrheit der Juror*innen ER vor SR sehen würden. Aber woher kommt dieses Gefühl? Ich glaube dafür gibt es zwei Erklärungen, abseits davon, dass vielleicht einige die Argumentation von SR prinzipiell ablehnen würden:

  1. Die Argumentation von ER hat einen positiven Nutzen.

Ich glaube, dass die Begründung unzureichend ist, denn sie macht nur in der Argumentationslogik von ER Sinn. SR würde darauf entgegnen: Es gibt keinen positiven Nutzen, da eine bessere Behandlung von Tieren in ihrem Wertekontext irrelevant ist. Zudem kann auch die Nicht-Einschränkung der Kunst von SR als dieser positive Nutzen begriffen werden.

  1. ER beantwortet die spezifischere Fragestellung.

Das Thema lautet nicht, ob Tierquälerei legitim ist, sondern ob Tierquälerei in der Kunst legitim ist. Damit wird das Thema von den Chefjuror*innen bewusst eingeschränkt. Ziel der Teams sollte es sein, so spezifisch wie möglich das Thema zu debattieren. Das Problem mit dieser Begründung ist, dass sie wiederum den Regeln der Logik widerspricht, da die Frage dennoch beantwortet wird. Man gesteht zu, dass implizite Annahmen existieren, die vor der Debatte von den Juror*innen getroffen werden, sollte man diese Begründung zulassen.

2. Ein Blick über den Tellerrand: OPD

Der Januskopf, Logo des OPD-Formats - © Streitkultur e.V.

Der Januskopf, Logo des OPD-Formats – © Streitkultur e.V.

Vielleicht ist dem ein oder anderen im OPD Regelwerk schon einmal der Punkteabzug „Thema verfehlt: Strittigkeitsgefälle nicht beachtet“ über den Weg gelaufen und derjenige hat sich gefragt, was das eigentlich bedeute. Dabei handelt es sich um einen Argumentationskomplex, der eine Frage mit einer noch strittigeren Frage beantwortet. Dies gibt Punkteabzug in OPD, da es von der eigentlichen Streitfrage ablenkt und die Gegenseite zwingt, andere Fragen als die eigentlich gestellte zu beantworten. Ein Beispiel wäre dafür:

Das Thema lautet: Sollten Techniken zur sauberen Energiegewinnung auch gegen den Willen der Bevölkerung eingeführt werden?

Der Antrag lautet: Ja, und deswegen lassen wir alle Arbeitslosen (auch gegen ihren Willen) in einem riesigen Hamsterrad laufen, um Energie zu gewinnen.

Obwohl der Antrag die Frage beantwortet, ist nun eine neue, strittigere Frage im Spiel: Dürfen wir Arbeitslose zu unwürdiger Arbeit zwingen? Sie überschattet die eigentliche Frage und verschiebt die Logik der Debatte, überrumpelt die Gegenseite (sowie das Publikum) und obwohl es die Frage beantwortet, erschleicht sich das Gefühl, dass das Thema verfehlt wird. Um diesen Missbrauch vorzubeugen, hat OPD dafür einen Punkteabzug eingeführt.

Jeder, der mit mir schon über BPS gesprochen hat, weiß, dass ich ein strikter Gegner eines Regelwerks für BPS bin. Was ich mit dem OPD-Auszug aber zeigen will, ist, dass die drei Akteure einer Debatte – Teilnehmer*innen, Juror*innen, Publikum – mit einem Thema ein Set von Streitfragen assoziieren, dessen bewusste Verschiebung zu Dissonanz und Ablenkung führen kann. Natürlich ist der Fall des Hamsterrads und des Tierleids unterschiedlich zu handhaben aber dennoch zeigen sich tendenziell problematische Parallelen.

3. Die Perspektive aus CA-Sicht

Wenn Themen gestellt werden, sollte generell über jedes Wort nachgedacht werden. Ein anderes Verb, ein eingeschobener Nebensatz, eine Zweckanbindung, etc. können Dynamiken von Debatten massiv verändern. Darauf müssen sich Teilnehmer*innen der Debatte einstellen. Deswegen ist es eine bekannte Art der effektiven Vorbereitung, jedes einzelne Wort eines Themas zu analysieren und zu definieren, um genau diese Nuancen nicht zu verpassen.

Chefjuror*innen setzen Themen (meist) sprachlich bewusst, um klare Schwerpunkte zu setzen. Oftmals verändern einzelne Aspekte die Ausgeglichenheit der Themen. Die Erwartungshaltung der Chefjuror*innen ist es deswegen auch, dass Teilnehmer*innen das spezifische Thema debattieren. Wenn über die Videoüberwachung öffentlicher Plätze debattiert werden soll, kann die Debatte nicht gleichgesetzt werden mit der Frage, ob man sich im Zweifel für die Freiheit entscheiden solle. Die Frage, ob man im Zweifel für die Freiheit sei, ist mehr oder weniger Bestandteil der Videoüberwachungsdebatte aber die Reduktion auf die Frage führt zu einer Negierung der weiterführenden Fragen. Somit ist die Frage Teil aber nicht Ganzes der notwendigen Argumentation.

Die Reaktion darauf ist oftmals, dass Teams über die Konstruktion von Anträgen oder Strategien versuchen, das Thema doch anders zu setzen, als es die Chefjuror*innen vorgegeben haben, um es so entweder leichter zu haben oder den Gegner zu überraschen. Interessanterweise scheitern die meisten Teams mit dieser Methode, da sie aufgrund des oben beschriebenen Problems auf Dissonanz zu den impliziten Annahmen der Juror*innen treffen.

4. Ein Zwischenfazit

Willy Witthaut - © privat

Willy Witthaut – © privat

Ich glaube es ist richtig, dass die Eröffnende Regierung die Schließende Regierung in dem konstruierten Beispiel schlägt. Auch wenn die Regeln der Logik mehr oder minder ein Unentschieden hervorrufen würden, gibt es implizite Annahmen, die Publikum, Juror*innen und Gegner treffen. Um die Debatte, um die es sportlich gehen soll zu ermöglichen und allen faire Chancen zu bieten, sollte immer das spezifische Thema im Vordergrund stehen. Andernfalls geht es gar nicht um das beste Argument, sondern um die beste Strategie, den Gegner auf den falschen Fuß zu erwischen.

Wenn mein Fazit jedoch angenommen wird, ergibt sich ein weiteres Problem: Heißt das nicht in letzter Konsequenz, man sollte Teams im Coaching beibringen, immer dann auf prinzipielle Argumente zu verzichten, wenn sie Alternativen haben? Oftmals sind die prinzipiellen Fragen Fragen nach Werten einer Gesellschaft. Dabei sind es doch diese, die am Ende die größten Implikationen haben? Ändern wir Grundsätze der gesellschaftlichen Ordnung, ergeben sich ja wesentlich weiterführende Konsequenzen. Kommen wir zum ursprünglichen Beispiel zurück. Die Argumentation von SR hat nicht nur Auswirkungen auf die spezifische Fragestellung, sondern auf alle Bereiche, in denen es um die Interaktion von Mensch und Tier geht.

Hier stoßen wir vielleicht auf ein Problem, das dem Debattieren an sich innewohnt: In sieben Minuten lässt sich nicht die Welt erklären. Wir reduzieren auf das Wesentliche. Jedoch sind Werteargumentationen so weitreichend, dass ihre vollkommene Relevanz und Strahlkraft niemals in sieben Minuten erklärt werden können und wie im Artikel beschrieben, von der Streitfrage, die es (im Wettbewerb) zu beantworten gilt, ablenken. Vielleicht ist das der Grund, warum viele an der Frage „Was ist Würde?“ scheitern. Es ist beinahe unmöglich diesen Komplex in einer spezifischen Frage in nur sieben Minuten unterzubringen. Wenn wir uns für Sicherheit statt für Freiheit entscheiden, führen wir nämlich nicht nur die Debatte um Videoüberwachung, sondern auch über Nacktscanner, die NSA und Gefährder*innen. Diese Konsequenzen und ihre jeweiligen Folgen in sieben Minuten aufzuzeigen, ist eine Mammutaufgabe – aber eigentlich notwendig, um zu überzeugen.

Wir bewegen uns im Debattieren immer im Spagat zwischen Wettbewerb und Suche nach der „Wahrheit“ aber dennoch werden wir beidem niemals gerecht. Am Ende bleibt die Reduktion auf das, was unseren Sport ausmacht: Das Team, das am meisten überzeugt, gewinnt.

Willy Witthaut/lok.

 

Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Willy Witthaut war Chefjuror der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2016, der ZEIT DEBATTEN Heidelberg 2014, Mainz 2014 und Hamburg 2013, der Westdeutschen Meisterschaft 2013 sowie zahlreichen Turnieren der Freien Debattierliga. Er ist Deutschsprachiger Vizemeister 2014 und Sieger mehrerer Turniere, darunter die ZEIT DEBATTEN Dresden 2014 und Magdeburg 2012. In der Amtszeit 2011/2012 war er Präsident des Debattierclubs Johannes Gutenberg e.V. Mainz. 2014/15 Vorstandsbeirat für Bereich Equity und Fairness des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen e.V. Derzeit studiert er Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

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7 Kommentare zu “Der strittige Umgang mit dem Strittigkeitsgefälle”

  1. Patrizia aus Jena sagt:

    Danke Willy für diesen Artikel.
    Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass die SR die ER mit dem prinzipielleren Argument schlägt. Vorallem deshalb, weil der höheren Zweck den die ER mit ihrem „Opfer“ erreichen will, sehr unsicher ist. Also wie Menschen wirklich auf das Leid reagieren ist sehr ungewiss und es sind einige Zwischenschritte nötig um darauf aufbauend eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zu erreichen.
    Die Linie der SR ist eindeutig und mit weniger “ Unwägbarkeiten“ versehen. Daher im Ergbnis warscheinlich überwuegender. Ob es dem betreffenden BP-Juror missfällt, dass Tiere gequält werden können, ist völlig irrelevant.
    Meines Erachtens lebt BP gerade davon, dass die zweite Hälfte sich ausführlich(er) mit Prinzipien beschäftigen kann. Gefühlt wird das international deutlich mehr honoriert.
    Ich denke nicht, dass CAs durch die Eingrenzung des Themas eine solche Strategie unterbinden können.

  2. Toni (München/Osna) sagt:

    Im konkreten Fall würde mein Gefühl auch eher zur zweiten Regierung tendieren. Die von der Motion intendierte Streitfrage ist Kunstfreiheit vs Tierrechte. Indem wir Tierrechte negieren, wird die Abwägung danach ziemlich einfach, schließt aber insbesondere alle(!) Kunst ein.
    Die erste Regierung hat da deutlich mehr Nebenbedingungen: Ich kann schließlich auch Kunst mit Tierquälerei machen, ohne auf Tierrechte aufmerksam zu machen, deswegen engt die Definition der ER „Kunst“ dann doch ziemlich ein und erfordert zusätzlich eine sehr starke, allgemeine Annahme (von der der Weg zur kompletten Rechtlosigkeit nicht mehr so weit ist): Sie spricht Tieren Individualität ab. Niemand käme auf die Idee eine Kunstaktion wie „Flüchtlinge fressen“ (Zentrum für polit. Schönheit) oder um im Rahmen der Motion zu bleiben: Wir lassen aus gutem Grund keine afrikanischen Kinder als Kunstaktion auf dem Marktplatz verhungern um auf das Hungerproblem in Afrika aufmerksam zu machen. Und das aus gutem Grund. Zusätzlich fangen sie sich eine ziemlich blöde „Ist das Kunst oder kann das Weg“-Diskussion über die Definition von Kunst ein. Insgesamt scheint mir die Linie einfach in sehr viele kleine, in verschiedene Richtungen gehende Strittigkeiten zu zerfallen, wo ich der großen, eindeutigen Linie der SR den Vorzug geben würde.

  3. Toni (München/Osna) sagt:

    Im Allgemeinen bin ich aber doch bei Willy: Spezifischer an der Streitfrage zu sein, ist eher ein Vorteil. Wenn es die erste Regierung schaffen würde (ohne diese imho unpassende utilitaristische Abwägung, in welcher Welt mehr Tierkadaver liegen), glaubhaft zu machen, warum gerade Kunst in ihrer vollen Breite quasi uneingeschränkten Zugriff auf Tiere hat (was mir sehr schwer erscheint, ohne Tierrechte komplett zu negieren), dann würde das die SR schlagen.

  4. Barbara S. (HH) sagt:

    Ein sehr cooler Artikel, danke Willy 🙂

    Ich möchte in meiner Antwort zuerst auf die konkrete Debatte eingehen, dann etwas zu dem allgemeinen Problem schreiben.

    Ich glaube, dass es für die von dir geschilderte konkrete Debatte keine universelle Lösung gibt, weil m.E. sowohl ER als auch SR Fehler in ihrer Argumentation machen, bei denen man im Einzelfall schauen muss, welcher schwerer wiegt und gröber gemacht wurde. So wie du das Beispiel konstruierst (bzw. so wie ich es verstehe), haben beide Teams nicht sauber bei der Begründung ihrer Prämissen gearbeitet. Die ER geht davon aus, dass Tierrechte grundsätzlich schützenswert sind und die Aufhebung dieses Grundsatzes im Rahmen der Kunst zulässig ist, um diesen Wert in der Gesellschaft voranzubringen und damit ultimativ weniger Tierquälerei zu ermöglichen. Das Thema gibt diesen Wert und diese Zielvorstellung aber nicht (zwingend) vor. ER hätte diesen Wert daher m.E. begründen müssen (wenn sie das getan hat, kann sie durchaus vor SR sein, dazu sogleich).
    SR nutzt genau diese Wertoffenheit des Themas und stellt die Prämisse der ER in Frage oder widerlegt sie sogar überzeugend. Wenn ER es verpasst hat, diese Prämisse zu begründen, fände ich es einen guten Grund, SR vor ER zu sehen (wobei man sich hier natürlich die Frage stellen müsste, ob es ein (un)zulässiger Dolch wäre, aber das klammern wir hier ja gerade aus 🙂 ).
    SR hätte aber m.E. darüber hinaus zeigen müssen, warum ihr Wertefundament und ihre Prämissen *besser* sind als die bereits von der ER eingebrachten Grundannahmen, zu denen sie sich diametral in Widerspruch gesetzt hat (insbesondere falls ER diese Prämissen doch begründet hat). Nur indem sie das unterlässt, kommt es zu dem von dir geschilderten Problem, dass 2 Wertesysteme „gleichwertig“ nebeneinander stehen und man als Juror keine Abwägungskriterien anhand der Debattierleistung in der Debatte hat. Da die SR diejenige ist, die sich in Widerspruch zur ER setzt und (unter den beiden) auch die einzige ist, die Gelegenheit gehabt hätte, diesen zu begründen, ist es m.E. ihr zur Last zu legen, wenn sie dies nicht tut. In diesem Fall gewinnt dann im Zweifel ER.

    Abstrakter auf das Strittigkeitsgefälle bezogen glaube ich schon, dass es hier einen Unterschied zwischen der Jurierung von OPD und BPS gibt, der jeweils im absoluten und relativen Jurieransatz begründet ist. Ich glaube aber auch, dass sich der Unterschied nur im Begründungsweg, nicht aber im Ergebnis auswirkt.

    Ich finde es schwierig, abstrakt in einer relativen BPS Jurierung den absoluten Maßstab der Verfehlung des Strittigkeitsgefälles anzuwenden, da er etwas in die Debatte hineinträgt, das dort im Zweifel nicht Gegenstand war (deswegen tritt das Problem ja überhaupt auf: Die Teams haben in aller Regel nicht über diese Gewichtung gesprochen, sondern sie nur implizit vorgenommen). Ich finde es aber plausibel, aus der Logik von BPS heraus den später sprechenden Teams aufzugeben, sich mit in der Debatte bereits eingebrachten Prämissen argumentativ auseinanderzusetzen, insbesondere dann, wenn sie sich in Widerspruch zu diesen setzen. Dies ist ein bisschen aus der Zuschauerperspektive gedacht: Wenn ER ein überzeugendes Argument und bestimmte Grundannahmen in die Debatte einbringt, dann wird ein neutraler Zuhörer zunächst denken: „Ja, das ist überzeugend und klingt richtig.“ Wenn nun ein späteres Team eine andere, ggf. gegensätzliche Grundannahme einbringt, wird sich dieser neutrale Zuhörer denken: „Ja, das ist auch überzeugend, aber warum ist es wichtiger und richtiger als das, was ER gesagt hat?“

    Die zentrale Frage ist damit m.E., welchem Team es zur Last gelegt wird, wenn es in der Debatte keine klare argumentative Entscheidung darüber gegeben hat, welcher Grundannahme der Vorzug zu geben ist. Denn ich glaube, dass es nur in dieser Konstellation dazu kommt, dass man die Teams nicht nach ihrer Überzeugungskraft in der konkreten Debatte von 1-4 ranken kann. Es geht für mich dagegen weniger um den von dir, Willy, aufgezeigten Konflikt zwischen konkreter Argumentation und abstrakter Werteargumentation an sich.

    Diese Frage nach der Verteilung der Begründungslast kann man bestimmt unterschiedlich beantworten. Ich persönlich würde im Regelfall aber (wie oben angedeutet) dazu tendieren, sie dem späteren Team aufzuerlegen, weil ich glaube, dass dies am Ende der Debatte als Sport am besten gerecht wird. Natürlich hat damit das spätere Team einen gewissen Nachteil, weil es tendenziell eine höhere Begründungslast hat. Dies finde ich aber gerechtfertigt, weil es gleichzeitig ja mehr Zeit hat, sich vorzubereiten und es zudem in seinem freien Ermessen steht, ob es sich auf diesen erhöhten Begründungsaufwand einlassen möchte oder ob es die Grundannahmen der ER (bzw. allgemein des früher sprechenden Teams) annimmt bzw. genau die gesetzte Debatte debattiert ohne das „Strittigkeitsgefälle“ zu verschieben. Es scheint mir jedenfalls fairer, als dem früheren Team nicht nur aufzugeben, zu begründen, warum die eigene Linie richtig und gut ist, sondern auch noch (präventiv) zu begründen, warum sie jede andere potentiell dagegen vorzubringende Linie schlägt.

    Natürlich gibt es zu jeder Regel eine Ausnahme, gerade in BPS. Wenn das zuerst sprechende Team eine komplett abwegige Linie fährt, um wie du, Willy sagst, die gegnerischen Teams auf dem falschen Fuß zu erwischen, bedarf es unabhängig von der Grundregel einer Korrektur in der Jurierung. Eben dafür haben wir aber auch Sonderregeln, wie z.B. dass die EO die Debatte auf das Thema zurückführen oder die SR ggf. dolchen darf und der nicht themenkonforme Antrag zu Lasten der ER zu werten ist. Gleichzeitig wird in einem solchen (Sonder-)Fall auch das frühere Team schon einen Begründungsaufwand haben, warum die eigene Linie legitim ist, weil der neutrale Zuhörer, der das Thema zu Beginn der Debatte vorgelesen bekommen hat, sich erstmal denkt: „Häh? Was hat das damit zu tun? Warum sollte ich davon überzeugt sein?“

    Ich würde mich daher bei der Jurierung einer BPS Debatte weniger fragen, ob die Linie eines Teams das Strittigkeitsgefälle der Debatte verfehlt hat, sondern ob es im Rahmen der konkreten Debatte aktiv zeigen konnte, dass es die überzeugendere Linie in Bezug auf die durch das Thema gestellte Frage ist. Das kann dann sowohl die konkretere, kleinteilige Argumentation an einem spezifischen Beispiel sein als auch die große Wertefrage.
    Wenn alle Teams es unterlassen, diese Gewichtung zu begründen, würde ich es regelmäßig den späteren Teams zur Last legen. Zur Sicherung der sportlichen Fairness würde ich (gleichsam als Sonderregel) eine Missbrauchsgrenze ziehen, die spätestens bei der völligen Verfehlung des Themas liegt und die entsprechend durch die anderen Teams eingefordert werden kann. Wenn ein Thema einen spezifischen Konflikt stellt und ein Team nur den abstrakten Konflikt bearbeitet, wird es daher aus meiner Sicht einen sehr hohen Begründungsaufwand haben, um zu überzeugen, warum es die gestellte Frage besser und überzeugender beantwortet als die anderen Teams. Wenn es diese Herausforderung aber meistert, kann es die Debatte damit m.E. durchaus gewinnen.

    Langer Rede, kurzer Sinn: Wie du auch schreibst: Es gewinnt das Team, das am meisten überzeugt. 🙂

  5. Konrad Tü sagt:

    Wenn das Thema lautet „DHG, Tierquälerei in der Kunst ist legitim.“ dann ist die Prämisse, dass Tierquälerei schlecht ist, im Thema vorgegeben. Sonst würde es keinen Sinn machen, eine Ausnahme zu debattieren. Mir wäre es lieber, an das Thema ein „um Tierrechte zu stärken“ oder ähnliches anzuhängen, allgemein ist die Richtung der Debatte mMn aber eindeutig.
    Wenn man die Argumentation der SR akzeptiert, zwingt man alle ER in solchen Themen, ausführlich die Prämissen und Prinzipien zu begründen. Wenn die schließende Hälfte aber nicht alles anzweifelt, sind das einige verschenkte Minuten Zeit. Wenn die ER es nicht macht, kann die schließende Hälfte die erste Hälfte mit ihrer Argumentation irrelevant machen.
    Da ich nicht in jeder Debatte über Wahlsysteme/Wahlzwang/Wahlvorteile/Volksabstimmungen etc. ausführlich den Sinn von Demokratie erklären will, sollten wir schließende Hälften dafür bestrafen, wenn sich ihre Argumentation fundamental gegen die Prämissen der vorherigen Debatte stellen.

  6. Daniel (Heidelberg) sagt:

    Vielen Dank, Willy, für diesen Artikel über ein Phänomen, das ich als Redner und als Juror auch immer wieder beobachtet habe und für sehr relevant halte. Ich stimme Deiner Beschreibung völlig zu, dass sich die Problematik für Redner vor allem als Frage des Timings darstellt – der Beleg der „noch strittigeren“ These ist in der Regel noch zeitaufwändiger als der Beleg der eigentlichen These und wird in 7 Minuten nur von sehr guten Debattanten gemeistert.

    Eine Ergänzung noch von mir: Häufig stellt das „Strittigkeitsgefälle“ vor allem für wenig erfahrene Teams in erster Linie eine „Strittigkeitsfalle“ dar, in die blindlings hineingetappt wird. Vor lauter Freude darüber, noch ein weiteres Argument gefunden zu haben, wird das Gefälle gar nicht wahrgenommen. Der zusätzlich benötigte Begründungsaufwand wird nicht erkannt, das „noch strittigere“ Argument wird einfach als weiterer Beleg für die eigene Position in die Argumentation eingebaut. Entweder verkümmert es, weil ihm nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet wurde, oder es schadet der vertretenen Position sogar, weil die Ablehnung der „noch strittigeren“ These dann auch die Ablehnung der eigentlichen Streitfrage erleichtert. Es sind diese Debatten, in denen das Strittigkeitsgefälle in der Jurierung dann häufig zu schlechten Bewertungen führt.

    Dagegen kann aber ein Artikel wie der von Willy helfen, indem er ein Bewusstsein für das Problem schafft und auch Anfänger dafür sensibilisiert. Nur wer das Gefälle erkennt, kann seine Rede gezielt darauf ausrichten – oder das „noch strittigere“ Argument im Zweifel auch einfach wieder streichen.

    Findet man sich dennoch einmal in der Strittigkeitsfalle wieder, hilft manchmal die Anordnung der Argumente als gleichrangige Argumente: weil a -> X; weil b -> X; weil c -> X. Wird a als „noch strittigere“ Position in der Debatte nicht anerkannt, bleiben immer noch b und c, um die Schlussfolgerung X zu rechtfertigen. Anders bei der Anordnung als nachrangige Argumente: Weil a -> b; weil b -> c; weil c -> X. Wird hier a als „noch strittigeres“ Argument erfolgreich entkräftet, können auch b und c die Schlussfolgerung X nicht mehr tragen.

    Grüße

    DS

  7. Nicolas F. (Göttingen) sagt:

    Ich halte die fiktive Jurierung dieser Debatte für äußerst schwer, da z.B. die Frage ob Tierquälerei als schlecht angesehen wird, ohne die Betrachtung der ganzen Debatte also auch der OPP kaum beantwortet werden kann. Ich denke dass Strittigkeitsgefälle (wobei ich bei BP eher von relevantem Debattenbeitrag sprechen würde) kann nicht nur anhand einer Seite geklärt werden. Ich bin auch kein Freund davon, Teile einer Debatte (also hier die R) separat voneinander zu betrachten. Ich erwarte bei einer holistischen Betrachtung eine ganzheitliche Sicht auf die Debatte und das beinhaltet auch die OPP und andere Dinge. Wenn wir hier theoretisch die Debatte in kleine Teile zerlegen leisten wir der mE eh schon geschwächten holistischen Betrachtungsweise einen Bärendienst.

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