Klischees hinterfragen und Vorurteile abbauen – Mathias Hamann über seine Tätigkeit als Leiter der Flüchtlingsnotunterkunft Moabit
Zwei große, weiße Wärmelufthallen auf einem Sportplatz in Moabit – das ist die Flüchtlingsnotunterkunft der Berliner Stadtmission, in der bis zu 300 Gäste, so werden untergebrachte Flüchtlinge genannt, Platz finden. Dort treffe ich Mathias Hamann, der die Einrichtung seit ihrer Eröffnung am 28. November 2014 leitet und die Arbeit von 24 Angestellten und über 300 freiwilligen Helfern koordiniert. Mit der Achten Minute hat er über die Herausforderungen und Verantwortung gesprochen, die diese Aufgabe mit sich bringt, und was das Debattieren damit zu tun hat.
Achte Minute: Lieber Mathias, unseren Lesern bist du als Präsident des Debattierclubs Wortfgefechte Potsdam und Halbfinalist der Kategorie „English as a Foreign Language“ der Weltmeisterschaften 2015 bekannt. Beruflich warst du als freier Journalist tätig. Wie kam es dazu, dass du nun eine Flüchtlingsnotunterkunft in Moabit leitest?
Mathias Hamann: Einer meiner Freunde schob während seines Studiums Nachtschichten in einer Notübernachtung für Obdachlose bei der Berliner Stadtmission. Ich hab ihn dann eine Nacht als Journalist begleitet und über die Arbeit geschrieben. Ich erlebte wilden Stunden: Schlägerei, Polizei und Notarzteinsatz. Während die Mitarbeiter damit zu tun hatten, stand ich mit meinem Schreibblock und der Kamera hinter dem Tresen, als einer der Gäste zu mir kam und fragte „Kann ich bitte ‘ne Suppe haben?“ So verteilte ich meine erste Suppe.
Am nächsten Morgen dachte ich, das kann ich auch machen. So arbeitete ich ein halbes Jahr später in derselben Unterkunft. Ein toller Job, weil ich viel über mich und die Gesellschaft gelernt habe. Zuerst war ich einfacher Mitarbeiter, später Verantwortlicher in der Nachtschicht und letztes Jahr dann Leiter einer Notübernachtung für Obdachlose. Im November 2014 fragte mich mein Chef, ob ich Lust hätte, eine Notunterkunft für Flüchtlinge zu leiten.
AM: Was ist denn eine Notunterkunft für Flüchtlinge genau? An welcher Stelle ihrer Reise werden Flüchtende bei euch untergebracht?
Mathias: Wir sind eine allererste Unterbringung für geflüchtete Menschen. Ein Flüchtling kommt in Berlin an, meldet sich bei einem Amt oder bei der Polizei. Ab diesem Moment ist der deutsche Staat für die Person zuständig. Mit dem Zettel vom Amt oder der Polizei kommt er zu uns. Wir liegen nur 20 Gehminuten von der Behörde entfernt, welche für die Flüchtlinge zuständig ist. Die Mitarbeiter können also Flüchtlinge zu uns schicken, die sie erst am nächsten Tag oder noch später bearbeiten, und die Menschen müssen nicht auf der Straße bleiben, sondern laufen einfach zu uns. Unsere Gäste übernachten hier im Schnitt nur wenige Tage.
AM: Am Eingang habe ich einen Aushang gesehen, der „Zumba-Training“ ankündigt. Ihr stellt Programm auf die Beine, obwohl eure Gäste nur wenige Nächte hier übernachten?
Mathias: Die Möglichkeit zu Integration und Begegnung soll bei uns von Tag eins an beginnen. Dessislava Kirova und ihre Kollegin Nicola Roth leiten bei uns den Bildungsbereich und organisieren Deutschkurse, Musikprogramm, Malen mit Kindern, Yoga für Frauen. Ein besonderer Kracher ist Bingo mit den Füchsen. Von den Füchsen kennen die Berliner die Profihandballer; zu uns kommt die Abteilung Speedbadminton. Die haben ihre Trainingsmöglichkeit am Montag verloren, weil eine Sporthalle als Notunterkunft für Flüchtlinge beschlagnahmt wurde. Anstatt sich zu beschweren, sagen sie sich: „Okay, dann kommen wir jetzt hierher und spielen Bingo mit Flüchtlingen.“ Die Stimmung ist jedes Mal großartig.
AM: Durch deine Arbeit kommst du in Kontakt mit vielen Individuen und ihren Geschichten. Was würdest du auf politischer Ebene verändern, wenn du die Wahl hättest?
Mathias: Flüchtlinge sollten vom ersten Tag an einen Krankenschein besitzen! Sie haben zwar ein Anrecht auf medizinische Versorgung, allerdings bekommen sie bisher in Berlin nicht sofort einen Krankenschein, mit dem sie oder ihre Kinder unkompliziert zum Arzt können.
AM: Würdest du sagen, dass du durch das Debattieren Kompetenzen erlernt hast, die du jetzt innerhalb deiner Tätigkeit einsetzen kannst?
Mathias: Ganz klar, Reden: Anwohnerversammlung, Schulklassen, lokale Politiker, Journalisten, der Senator – bei uns kommen viele Menschen vorbei, welche die Arbeit hier kennenlernen wollen. Da heißt es immer wieder, präzise und anschaulich eine kleine Einführung zu geben, denn Offenheit und Dialog sind uns wichtig. Wenn die Chance zu Integration hier vom Tag eins da sein soll, dann ist es einfacher, wenn die Gesellschaft auch zu den Menschen kommen kann, die sich integrieren wollen.
AM: Du hattest erwähnt, dass du durch deine Arbeit mit Obdachlosen viel über dich selbst gelernt hast. Ging es dir hier ähnlich?
Mathias: Ja, mir ist zum Beispiel klar geworden, dass Flüchtlinge oft als Klischees gesehen werden, ganz extrem auf dem rechten und dem linken politischen Spektrum. Natürlich gibt es den traumatisierten „armen Kriegsflüchtling“. Es gibt aber auch den Arzt oder den Professor aus Syrien, der natürlich sein iPhone mitgenommen hat. Es gibt den Flüchtling, der selbst ein Rassist ist und niemanden aus Afrika auf seinem Zimmer haben will; aber es leben hier viel mehr, die unheimlich nett und hilfsbereit sind. So wie es in Deutschland eben auch Ärsche und Engel unter den Menschen gibt. Nur weil ein Flüchtling sich rassistisch äußert sind nicht alle Flüchtlinge Rassisten, nur weil ein Berliner ein Nazi ist, sind nicht alle Berliner Nazis. Deswegen freuen wir uns auch, dass wir so viele Freiwillige haben, die immer ein anderes Gesicht von Deutschland zeigen.
AM: Ihr habt also die Möglichkeit, den ersten Eindruck von Deutschland der Menschen, die nach Deutschland flüchten, maßgeblich zu beeinflußen…
Mathias: Genau. Zum Beispiel leben bei uns durchaus mal orthodoxe Christen und Moslems in einem Raum. Wer als Flüchtling hierher kommt, braucht genau dieses Deutschland, wo unterschiedliche Menschen friedlich zusammenleben. Andersrum auch – wir haben viele Menschen in Deutschland, die unterscheiden sich nicht nur in Herkunft oder Religion sondern auch in Lebensstilen. Toleranz braucht es ja nicht nur in Bezug auf Flüchtlinge sondern auch für andere Menschen. Generell gilt: Ich kann nicht von anderen erwarten, was ich selbst nicht geben kann. Das gilt erst recht für Akzeptanz. Wir können dieses Deutschland in unserer Unterkunft vorleben. Unsere Freiwilligen tun das, weil sie zeigen: Ich helfe Dir einfach so.
AM: Ein großer Nachteil von Debatten ist es, dass Sachverhalte und die Realität aufgrund der kurzen Redezeit oft nicht korrekt und differenziert genug wiedergegeben werden. Könntest du heute noch Debatten zum Thema Flüchtlinge anhören oder führen ohne dich zu ärgern?
Mathias: Klar. Wir kennen ja das Phänomen, wenn wir meinen, wir wissen, wie der Hase läuft, weil wir über ein Thema mal eine Hausarbeit oder Bachelorarbeit geschrieben haben, dann führen wir oft schlechte Debatten. Du musst ja nicht nur viel wissen, sondern wissen, was davon wichtig ist und in die Debatte passt. Zudem sind Debatten auf Turnieren oft besser als Debatten, die wir sonst wo erleben, einerseits, weil die Rednerinnen und Redner sich zu vielen Themen informieren; andererseits weil Du Debatten ja nur gewinnst mit der Einstellung, dass die andere Person Recht haben könnte. Diese innere Einstellung, diese Art Respekt braucht es generell, um gut zu kommunizieren.
Wer nach dem Interview Lust hat, sich die Notunterkunft selbst einmal anzuschauen, kann sich bei Mathias unter fluechtlingshilfe [at] berliner-stadtmission [dot] de melden.
ama/hug
Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.
Mathias Hamann ist für den Debattierclub Wortgefechte Potsdam e.V. aktiv. Mehrere Jahre lang leitete er den Club als Präsident. Mit seinem Partner Moritz Kirchner erreichte er 2015 das Halbfinale der Kategorie „English as a Foreign Language“ auf den Weltmeisterschaften in Malaysia und gewann die Religions- und Glaubensdebatten in Bielefeld. Außerdem ist er amtierender Nordostdeutscher Vizemeister. Bevor er die Leitung der Flüchtlingsnotunterkunft übernahm, war er als freier Journalist tätig.
Anna Mattes ist Chefredakteurin der Achten Minute. Derzeit lebt und arbeitet sie in Berlin.
Sehr tolles Interview zu einem spannenden und wichtigen Thema 🙂