Wahrnehmung statt Konsens: Willy Witthaut über den intersubjektiven Charakter der OPD

Datum: 25. März 2015
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

Seit der letzten Deutschsprachigen Meisterschaft (DDM) im Format der Offenen Parlamentarischen Debatte (OPD) in München gibt es eine rege, aber kaum öffentlich geführte Debatte, wie sich das Format im Laufe der Zeit verändert hat. Andrea Gau hatte damals den Stein ins Rollen gebracht. Mit ihrem Artikel im Nachgang der DDM 2013 hat sie die wichtige und richtige Grundsatzfrage gestellt, wie zukünftig OPD juriert werden sollte. Ihren Vorschlag einer Objektivierung des subjektiven Eindrucks durch das obligatorische JurorInnengespräch teile ich fast uneingeschränkt.

Die Folge des Artikels war eine zunehmende Zuspitzung der Frage, ob eine Annäherung der OPD an das Format des British Parliamentary Style (BPS), die sogenannte „BPsierung von OPD“, existiere. Ich möchte alles andere als eine Lagerbildung entfachen – ich selbst debattiere leidenschaftlich gerne beide Formate – dennoch fußt die Debatte darauf, dass insbesondere die BPS-sozialisierten Debattanten das Mitteln als Ungerechtigkeit gegenüber dem guten Argument wahrnehmen. Mein Anliegen ist es heute, über die Sinnhaftigkeit des Mittelns zu referieren und mir die Frage zu stellen, wann Jurierbesprechungen zu weit gehen. Denn wenn wir das Mitteln immer weiter aus der Jurierung heraustrennen, schaden wir dem Format OPD im Kern. Radikal gesprochen ist meine These: Ohne Mitteln brauchen wir auch kein OPD!

OPD im Laufe der Zeit

Willy im Finale der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2014. © DDM Berlin 2014 // Matthias Carcasona

Willy im Finale der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2014. © DDM Berlin 2014 // Matthias Carcasona

OPD hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere in zwei Aspekten grundsätzlich verändert:

Zum einen beschränkt sich die Bewertung der „linken Kategorien“ (Sprachkraft, Auftreten) bei Gutleistungen nicht mehr auf zusammengefasst „Wortwitz“, sondern sie werden differenzierter betrachtet. So kann sich sehr gute Sprachkraft auch aus brilliant erklärten Beispielen und sprachlicher Exzellenz in Bezug auf inhaltliche Genauigkeit konstituieren. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass eine herrlich polemische Rede automatisch schlecht ist! Sie ist nur nicht mehr das einzige Stilmittel, hohe Punkte zu erhalten. Früher gab es beispielsweise häufig die Tendenz, bei Religionsdebatten Predigten zu halten. Das hat mit der zunehmenden Zuspitzung der Kategorien auf „Authentizität“ (beschrieben in meinem letzten Artikel) abgenommen.

Zum anderen werden die Teamkategorien genauer unter die Lupe genommen. Hier hat Andreas Artikel einen wichtigen Meilenstein in der Jurierung von OPD gelegt. Die zunehmende Fokussierung der Besprechung auf Teamkategorien lüftet den Schleier der Willkür in OPD-Jurierungen. Konkret wurde im Zuge der Diskussion die Kategorie Überzeugungskraft weiter ausdifferenziert. Einerseits wird Überzeugungskraft vielmehr als allgemeine Strategie aufgefasst, die sich immer noch sprachlich aber eben auch inhaltlich zusammensetzt, andererseits wird insbesondere die Auseinandersetzung mit der Gegenseite mit Punkten versehen.

Warum Mitteln? Und wann nicht?

Wenn wir die oben beschriebenen Tendenzen begrüßen, stellt sich legitimer Weise die Frage, warum überhaupt gemittelt wird und warum die Jurorenbesprechung nicht im Konsens einen Sieger finden kann, ähnlich wie es BPS schafft. Ich glaube, es ist an dieser Stelle wichtig, sich dem Kern und der Konstruktion des Formates zu nähern.

Als Publikumsformat sind JurorInnen in OPD vergleichbar mit Abgeordneten in einer repräsentativen Demokratie. Die vergebenen Punkte sollen ein vergleichbares Abbild individueller Eindrücke wiederspiegeln und nicht nach einer allgemein gültigen „Wahrheit“ suchen. Dieses Verständnis hat wichtige Implikationen zur Folge: Erstens wird davon ausgegangen, dass individuelle Ansichten über exakt dieselbe Leistung existieren können. Zweitens ist der Anspruch von OPD die Subjektivität, nicht die Objektivität, und drittens geht es um Eindrücke, also Momentaufnahmen der Subjektivität. Anders als BPS geht OPD nicht davon aus, dass eine endgültige Objektivität existiert, nach der eine Debatte bewertet werden kann. Vielmehr ist der Grundgedanke bei OPD, dass über Sieg und Niederlage ein Konglomerat verschiedenster Eindrücke entscheiden sollte. Das Jurieren in OPD basiert somit nicht auf der Idee eines Konsenses, sondern auf der Divergenz der jeweiligen JurorInnen.

Wenn wir diese Annahmen jedoch teilen, stellt sich die Frage, warum überhaupt gesprochen wird. Wenn es nur um die repräsentative Sammlung individueller Eindrücke zum Zeitpunkt X geht, wäre sofortiges Mitteln die logische Konsequenz.

Die Erklärung ist zwar banal, jedoch wichtig: Ein JurorInnenpanel, das einen kompletten Querschnitt der Bevölkerung mit all seinen Facetten repräsentieren würde (und natürlich die Regeln von OPD beherrscht), könnte immer sofort mitteln. Das arithmetische Mittel würde somit nah an einer allgemeinen Auffassung der Debatte grenzen. Das Mitteln wäre ein Mechanismus, der eine Objektivierung der subjektiven Eindrücke zustande kommen ließe. Das ist jedoch Utopie. Leider! Die Folge ist die Etablierung des JurorInnengesprächs, das als Überprüfungsmechanismus dienen soll.

Jurierbogen mit Punktzahlen - später wird gemittelt

Jurierbogen mit Punktzahlen – später wird gemittelt. © Achte Minute

Das Format verlangt von JurorInnen intersubjektiv zu bewerten. Von JurorInnen wird erwartet, ihre Punkte so zu begründen, dass sie für mehrere Personen gleichermaßen nachvollziehbar sind, anstatt dass sie aus einem reinen Bauchgefühl heraus entspringen. Die Intersubjektivität ist am Ende das Kriterium, das wir überprüfen müssen bei der Frage, ob wir Mitteln dürfen oder nicht. Deswegen existieren auch Jurierseminare. Sie sollen die JurorInnen schulen, ihre eigenen Ansichten auf eine allgemein verständliche und nachvollziehbare Ebene anzuheben und sie so zu begründen.

Ergeben sich größere Punktunterschiede, sind zwei Aspekte im Gespräch zu überprüfen. Insbesondere in Vorrunden muss überprüft werden, ob die Eichung der JurorInnen dieselbe ist. Häufig entstehen Punktunterschiede durch eine unterschiedliche Einstellung, wieviele Punkte im Durchschnitt zu vergeben sind. Obwohl seit Jahren deutlich kommuniziert wird, dass acht Punkte in einer Kategorie der Durchschnitt sind, gibt es immer noch genug JurorInnen, die erklären, sie bekämen im Club beigebracht, der Durchschnitt liege beispielsweise bei sieben Punkten. Schwieriger ist die Überprüfung der Intersubjektivität. Zum einen werden bei großen Punktunterschieden die jeweiligen JurorInnen gebeten, ihre Punkte zu erklären. Diese Punkte müssen dann akzeptiert werden, sofern zwei Kriterien erfüllt sind: Gibt es eine nachvollziehbare (wenn auch nicht übereinstimmende) Erklärung für die eigenen Punkte? Und wurden verhältnismäßig fair geringere bzw. höhere Punkte vergeben? Es wäre etwa unverhältnismäßig, einer Rede vier Punkte in Sprachkraft zu geben, wenn ein Vergleich hinkt, während alles andere (Sprachfluss, Sprachgenauigkeit, Betonung, Bildhaftigkeit, Sprachmelodie, Satzbau, usw.) mindestens solide war.

Ich möchte vier Anforderungen an den Jurierprozess formulieren, die im Status Quo leider oft zu wenig Beachtung finden:

1. Jurierprozesse müssen ergebnisoffen sein:

Auch wenn Sichtweisen von Co-JurorInnen nicht geteilt werden, müssen diese akzeptiert werden, solange sie begründet sind und mit allgemeinem Menschenverstand nachvollziehbar sind. Versuche, andere JurorInnen von der eigenen Sichtweise zu überzeugen, sind im Format nicht erwünscht. Alle JurorInnen haben zwar das Recht, ihre Sichtweise darzulegen, haben aber keinen Anspruch auf alleinige Gültigkeit. Eine gemeinsame Lesart einer Debatte ist zwar angenehm und einfacher zu begründen, jedoch systemisch nicht notwendig.

2. Eine strikte Trennung zwischen Team- und EinzelrednerInnenpunkten:

Auch wenn oftmals eine Korrelation zwischen verschiedenen Kategorien existiert, so ist eine Kausalität nicht zwingend gegeben. Die individuelle Momentaufnahme einer Einzelrede ist nicht vergleichbar mit dem Gesamteindruck einer Debatte, die in den Teamkategorien besprochen wird. HauptjurorInnen haben die Aufgabe, beide Teile der Besprechung klar voneinander abzugrenzen und Versuche zu unterbinden, beide Bewertungen zu vermischen.

3. Kein künstliches Verlängern der Besprechung:

Auch wenn es unterschiedliche Meinungen in wichtigen Runden gibt, macht es relativ wenig Sinn, jeden Halbsatz der RednerInnen im Detail zu analysieren. Auch wenn das manchem Hardcore-BPS-Debattanten nicht gefällt: Kein Publikum der Welt nimmt jeden Halbsatz wahr. Am Ende ist entscheidend, wie die jeweiligen RednerInnen es geschafft haben, den Inhalt rüberzubringen, und wie dieser beim Publikum bzw. den JurorInnen ankam. Eine JurorInnenbesprechung darf niemals länger dauern als die Debatte selbst. Es verzerrt die Eindrücke und Wahrnehmungen und führt dazu, dass die Grundsätze des Formats OPD nicht mehr eingehalten werden.

4. Gespräche auf Augenhöhe in Breakrunden:

Unabhängig von Erfahrungsunterschieden haben sich alle gebreakten JurorInnen durch ihre Qualität in den Vorrunden ausgezeichnet. Es ist in Vorrunden schon problematisch, aber gebreakte JurorInnen sollten nur dann belehrt werden, wenn sie gegen das Format verstoßen. Ihre Eindrücke und Erklärungen sind nicht „falscher“ oder „weniger richtig“. OPD ist immer noch ein Publikums- und Wahrnehmungsformat.

Fazit

Es ist notwendig, dass JurorInnen darauf sensibilisiert werden, dass es bei OPD nicht darum gehen darf, einen „Call“ durchzusetzen. Auch wenn es mir selbst in gewissen Situationen sehr schwer fällt, muss akzeptiert werden, dass OPD ein Format ist, das sich aus der Divergenz einzelner Meinungen konstituiert. Insbesondere in Breakrunden müssen JurorInnen sich darüber im Klaren sein, dass es sich beim Jurierprozess um ein klärendes und kein Streitgespräch handelt. Es dient dazu, am Ende RednerInnen unterschiedliche Sichtweisen darzulegen, aus denen ein Ergebnis zustande gekommen ist, und weniger dazu, andere JurorInnen von der eigenen Meinung zu überzeugen. Je weiter wir uns von der Idee des Mittelns weg bewegen, desto weiter entfernen wir uns von der Grundlage des Formats: OPD  würde so immer weniger ein Publikums- und Wahrnehmungsformat und immer mehr ein selbstreferentielles Aushandlungsformat.

Willy Witthaut/ama/hug

Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Willy Witthaut war Chefjuror der ZEIT DEBATTEN Heidelberg 2014, Mainz 2014 und Hamburg 2013, der Westdeutschen Meisterschaft 2013 sowie zahlreicher Turniere der Freien Debattierliga. Er ist Deutschsprachiger Vizemeister 2014 und gewann die ZEIT DEBATTEN Dresden 2014 und Magdeburg 2012. In der Amtszeit 2011/2012 war er Präsident des Debattierclubs Johannes Gutenberg e.V. Mainz. Er ist Mitglied der Regelkommission der Offenen Parlamentarischen Debatte und für den Bereich Equity und Fairness Vorstandsbeirat des Verbandes der Debattierclubs an Hochschulen e.V. Derzeit studiert er Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

 

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3 Kommentare zu “Wahrnehmung statt Konsens: Willy Witthaut über den intersubjektiven Charakter der OPD”

  1. Lennart Lokstein sagt:

    Völlig richtig – danke für den guten Beitrag!

  2. Lukas Be, Bonn sagt:

    Vielen Dank, Willy, für diesen lesenswerten Artikel! Er hat mir sehr weitergeholfen, die Kernidee der OPD besser nachzuvollziehen: ein Format, dass erklärtermaßen auf die subjektive Wirkung einer Rede beim Zuhörer abzielt. Was bleibt, ist das Problem „unrepräsentativer“ Panels. Und da sogar bei OPD-ZEIT Debatten die Panels in Vorrunden kaum jemals aus mehr als zwei Juroren bestehen, muss man sagen, dass dieses Problem wohl vorerst dem Format inhärent ist. Daher ist es schon wichtig, dass das Verständnis vom Punktemaßstab relativ verbindlich ist. Eine Rednerleistung in einer Kategorie sollte beispielsweise mit 6 Punkten bewertet werden, wenn man sie für deutlich unterdurchschnittlich hielt, während 4 Punkte auch bei einem Einsteiger regelmäßig unverhältnismäßig sein dürften.

    In diesem Sinne erachte ich es als überaus nützlich, wenn erfahrene Juroren ihr Verständnis von OPD auf der Achten Minute weitergeben, zu neuen Diskussionen anregen oder andere Fragestellungen aufwerfen. Ich weiß, dass eine ganze Reihe an höchste lesenswerten Artikeln im Archiv der Achten Minute schlummern. Leider werden sie so nur dem Findigen bekannt. Der Artikel von Andrea Gau war mir beispielsweise trotz mehrmaligen Stöberns nicht bekannt. Hier würde ich gerne als Anregung an die Achte Minute vorschlagen, solche Artikel leichter und komprimierter als bisher zugänglich zu machen. Stichwort Wissenssicherung: Kommende Jurorengenerationen profitieren hier mit Sicherheit. Und es ist schade, wenn gute Artikel dann in der digitalen Schublade verschwinden.
    Unbestritten ist, dass es vor allem praktische Erfahrung braucht, um ein guter OPD-Juror zu werden. Aber wenn jedem Juror einer ZEIT Debatte beispielsweise der Artikel von Jan Papsch über die Jurierung der linken Kriterien bekannt wäre, mag dies womöglich zu besseren Jurierungen führen.

  3. Jan P sagt:

    Sehr schöner Beitrag Willy, vielen Dank! Ich muss mich für Aachen langsam mal wieder reindenken, und es ist wichtig daran erinnert zu werden, dass es in den Jurorenbesprechungen um den Test der Begründbarkeit abweichender Meinungen geht, nicht um die Aufhebung unterschiedlicher Meinungen (ein Bisschen wie beim Debattieren allgemein 🙂 )
    Lukas, es freut mich ungemein, dass Du Dich nach bald zwei Jahren noch an meinen Beitrag erinnerst!

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